Seit dem 28. April kommt Kolumbien nicht zur Ruhe. Nach dem Ausbruch von Massenprotesten gegen soziale Ungleichheit und staatliche Gewalt, die sich zunächst an einer geplanten Steuerreform entzündet hatten und seitdem brutale Gegenreaktionen durch die staatlichen Sicherheitsbehörden hervorrufen, ist die bisherige Bilanz der Gewalt verheerend. Bis zum 02. Juni meldeten zivilgesellschaftliche Organisationen 76 getötete Demonstrant*innen (davon 34 mutmaßlich durch Sicherheitskräfte, die restlichen durch nicht identifizierte „Zivilisten“ oder es fehlen eindeutige Informationen), 988 Verletzte, 2.395 Festnahmen, viele davon willkürlich, und 87 Fälle geschlechterbasierter Gewalt. Die Regierung setzt neben der polizeilichen Sondereinheit zur Aufstandsbekämpfung ESMAD in einigen Städten auch das Militär zur Unterdrückung der Proteste ein.
Die Arbeitsgruppe zu gewaltsamem Verschwindenlassen der Koordination Kolumbien – Europa – Vereinigte Staaten (CCEEUU) verzeichnete am 27. Mai 327 verschwundene Personen. Die kolumbianische Ombudsstelle sowie die Generalstaatsanwaltschaft bestätigten am 30. Mai offiziell 111 Fälle, in denen ein Suchmechanismus nach wie vor aktiv sei.
Eine Allianz um den Abgeordneten Iván Cepeda Castro hatte bereits Mitte Mai vor dem Internationalen Strafgerichtshof und den Vereinten Nationen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Kontext der Proteste angeklagt und den Gerichtshof aufgefordert, diesbezüglich Untersuchungen aufzunehmen. Der eingereichte Bericht dokumentiert mehr als 1.500 Tatbestände, darunter Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen.
In einer kürzlich veröffentlichten Stellungnahme gibt die Ökumenische Kommission Gerechtigkeit und Frieden (Comisión Intereclesial de Justicia y Paz, CIJP) an, Informationen zu Massengräbern in der Umgebung von Cali – dem Zentrum der Proteste – erhalten zu haben. In diesen sollen sich Leichen von im Kontext der Proteste verschwundenen Jugendlichen befinden. Weiterhin verfügt die Kommission über Berichte darüber, dass bewaffnete Zivilgruppen, geschützt durch die Polizei, in einem Wohlstandsviertel von Cali ein sogenanntes „Zerstückelungshaus“ eingerichtet haben sollen. Daten der Universidad del Valle zufolge galten am 26.05. in Cali 121 Personen als vermisst.
Die kolumbianische Regierung hatte einen Verifikationsbesuch der Interamerikanischen Menschenrechtskommission zur Untersuchung der Menschenrechtsverbrechen zunächst abgelehnt. Dass sie dem Ersuchen schließlich nachgab und die Kommission ihren Besuch antreten kann, liegt wohl auch an der massiven nationalen und internationalen Mobilisierung.
Hier geht es zum aktuellen sowie weiteren Beiträgen der Koalition gegen Verschwindenlassen zu Kolumbien.