Das Versagen der Behörden verschärft die Menschenrechtskrise in Mexiko. Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln oft nur mangelhaft – auch aus Angst vor den Drogenkartellen. Zu diesem Schluss kommt Amnesty International in seinem im Januar 2016 veröffentlichten Bericht mit dem Titel „Treated with indolence: The state’s response to disappearances in Mexico“, in deutscher Übersetzung „Eine gleichgültige Behandlung: Die Reaktionen des Staates auf das Verschwinden von Personen in Mexiko“.
Zusammenfassung und Empfehlungen
Seit 2006 haben nationale und internationale Organisationen der Zivilgesellschaft vor einem Anstieg der Zahlen verschwundener Personen in Mexiko gewarnt. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts hatte man nach offiziellen Angaben keine Kenntnis über den Aufenthaltsort von mehr als 27.000 Personen, wobei keine Klarheit darüber herrscht, wie viele dieser Personen Opfer eines gewaltsamen Verschwindenlassens (d.h. unter Beteiligung von Staatsbediensteten) wurden, wie viele durch nichtstaatliche Akteure verschwunden sind und wie viele sich aus freien Stücken von ihrem Wohnort entfernt haben.
2013 veröffentlichte Amnesty International seinen Bericht „Sich dem Albtraum stellen: das Verschwindenlassen von Menschen in Mexiko“1. Wenig hat sich seitdem geändert, aber die Anstrengungen seitens verschiedener Vereinigungen von Opfern und Angehörigen, Organisationen der Zivilgesellschaft und internationaler Einrichtungen haben es geschafft, das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen, was den mexikanischen Staat dazu bewogen hat, einige Maßnahmen anzukündigen, um dieser Krise zu begegnen.
In dem vorliegenden Bericht untersucht Amnesty International zwei Situationen des Verschwindens in Mexiko: den Fall des gewaltsamen Verschwindens von 43 Studenten der Pädagogischen Hochschule von Ayotzinapa und die Krise der Verschwundenen in der Stadt Cuauhtémoc im Bundesstaat Chihuahua. Diese Fälle wurden ausgewählt, weil sie einige Facetten der Problematik hervorheben: das Ausmaß, welches das Verschwinden in Mexiko erreichen kann, die Formen der Reaktion des mexikanischen Staates auf diese Delikte und die Auswirkungen auf die Menschenrechte der Opfer. In gleicher Weise geben wir einen kurzen Überblick über die verschiedenen Formen der Organisationen der Angehörigen von verschwundenen Personen auf der Suche nach ihren Verwandten.
In Mexiko scheinen die Behörden unfähig zu sein, auf institutioneller Ebene schlüssig zu reagieren mit dem Ziel, die Wahrheit herauszufinden und für Gerechtigkeit zu sorgen – unabhängig davon, ob es sich um einen in der Öffentlichkeit bekannten Fall des Verschwindens handelt oder um einen unbekannten Fall. Es ist notwendig, dass der mexikanische Staat seiner Pflicht nachkommt, ausführliche Suchen nach den verschwundenen Personen durchzuführen, die Fakten zu untersuchen, die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen und vollständige und angemessene Entschädigung für die Opfer dieser schweren Menschenrechtsverletzungen zu garantieren. Ferner muss der Staat eine öffentliche Politik entwickeln, die darauf abzielt, das Verschwinden von Personen zu verhindern.
Amnesty International kommt zu dem Schluss, dass die Suche nach verschwundenen Personen mangelhaft ist und zu spät einsetzt. Im Fall der 43 Studenten von Ayotzinapa beispielsweise weist die Suche schwerwiegende Mängel auf, die noch nicht behoben sind. In Cuauhtémoc wurden die Opfer im Allgemeinen nicht von staatlichen Stellen gesucht, und in den Fällen, in denen menschliche Überreste gefunden wurden, waren diese Funde zufallsbedingt und nicht das Ergebnis sorgfältiger Ermittlungen seitens der Behörden.
In der Mehrheit der Fälle scheint die Untersuchung nicht darauf ausgerichtet zu sein, die Wahrheit darüber herauszufinden, was passiert ist. Die Behörden beschränken sich darauf, einige wenig brauchbare Aktionen zur Nachforschung durchzuführen. Diese Art der Untersuchung ist nur eine Formalie, die schon im Vorwege zum Scheitern verurteilt zu sein scheint. In den zu Cuauhtémoc analysierten Fällen beruhen nahezu alle relevanten Informationen auf Ermittlungen, die von den Familien und ihren Rechtsbeiständen zur Verfügung gestellt wurden. Das überträgt die Last der Beweisführung unrechtmäßigerweise auf die Opfer. Im Fall der Studenten von Ayotzinapa ist die Untersuchung fehlerhaft und die Behörden waren nicht willens, die Empfehlungen anzunehmen, die von der Interdisziplinären Gruppe unabhängiger Experten (GIEI) ausgesprochen wurden.
Diese war von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission beauftragt worden, eine technische Analyse zur Untersuchung des Falles durchzuführen. Das Verschwinden (ob durch staatliche oder nichtstaatliche Täter ausgelöst) führt zu einer Reihe von Verletzungen der Rechte der Opfer und ihrer Angehörigen. Das gewaltsame Verschwinden eines Menschen fügt seinen Angehörigen ernsthafte Schäden zu und verletzt deren Unversehrtheit. Dabei handelt es sich um eine Art von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder herabsetzender Behandlung. Die Betroffenheit durch das Verschwinden naher Angehöriger ist so tief und offensichtlich, dass es keinen Grund für die Annahme gibt, es sei weniger schlimm, wenn es sich um das Verschwinden durch nicht- staatliche Akteure handelt. Beide Situationen müssen vom Staat anerkannt werden, und die Opfer müssen eine angemessene Entschädigung erhalten, die ihnen im Rahmen des Möglichen die Wahrung ihrer verletzten Rechte wiederherstellt.
Den von Amnesty International gesammelten Aussagen kann man entnehmen, dass die Art der Behandlung, die die zuständigen Untersuchungsbehörden den Familien gegenüber an den Tag legen, mangelhaft, verletzend und von einem tiefen Desinteresse an den Fällen gekennzeichnet ist. Eine befragte Mutter fasste die Aufmerksamkeit, die man ihr entgegenbrachte, in dem Satz zusammen, der diesem Bericht den Namen gegeben hat: „Eine gleichgültige Behandlung, wie ein weiteres Stück Papier, denn das sind die verschwundenen Personen für sie, eine weitere Akte, die sie abheften.“
Außer der Verletzung der persönlichen Unversehrtheit sehen sich die Angehörigen, die hinter einer verschwundenen Person zurückbleiben, ernsthaften materiellen Schwierigkeiten ausgesetzt und müssen eine Reihe von Veränderungen in ihrem Leben vornehmen. Das schließt die Durchführung neuer Aktivitäten ein, die Annahme einer neuen Anstellung, um sich über Wasser zu halten, oder andere wirtschaftliche Maßnahmen, um sich der Suche nach ihren verschwundenen Angehörigen zu widmen. Sie sehen sich auch gezwungen, den Wohnort zu wechseln aus Angst vor Repressalien durch die wahrscheinlich Verantwortlichen für das Verschwinden.
Besonders gravierende Auswirkungen auf die Lebensweise der Personen haben Geldschulden, die bleiben, wenn eine Person verschwunden ist bzw. neue Kredite, die eine Familie aufnehmen muss, um der Situation Herr zu werden. Die Familien der verschwundenen Personen laufen ständig Gefahr, ihr Eigentum, auch ihr Haus zu verlieren. Die geltende Gesetzgebung sieht keinerlei Schutz ihrer Rechte unter diesen Umständen vor.
Der mexikanische Staat hat die Schaffung eines Allgemeinen Gesetzes zum Verschwinden angekündigt, das staatliches Handeln auf allen Ebenen der Exekutive (Behörden des Bundes, der Bundesstaaten und Gemeinden) in Bezug auf dieses Thema regeln soll. Es ist notwendig, dass das neue Gesetz die Komplexität des Phänomens widerspiegelt und Antworten gibt, die über die derzeit herrschende Strafgesetzgebung hinausgehen. Das Gesetz muss u.a. Hilfsmaßnahmen für die Familien beinhalten, eine Abwesenheitserklärung, um den verschwundenen Menschen und seine Familie zu schützen, sowie Maßnahmen zur Entschädigung. 2015 hat die Generalstaatsanwaltschaft eine Unterabteilung für Fälle von verschwundenen Personen gebildet; aber bisher hat man noch nicht die nötigen Mittel bereitgestellt, um die Effektivität zu gewährleisten, damit die Beamten regelmäßig Rechenschaft über ihre Tätigkeit ablegen.
Die wichtigsten Empfehlungen
- Einordnung des gewaltsamen Verschwindenlassens und des Verschwindens durch nichtstaatliche Akteure als eigenständige Delikte im Allgemeinen Gesetz zum Verschwinden, in Übereinstimmung mit den höchsten internationalen Standards. Damit
soll garantiert werden, dass alle Anzeigen wegen Verschwindens gründlich untersucht werden, unabhängig davon, wer der vermeintliche Urheber ist und dass das Delikt des gewaltsamen Verschwindens untersucht und bestraft wird, wenn es Indizien für die Beteiligung von Staatsbediensteten gibt, einschließlich der Fälle, bei denen es sich um ihre Autorisierung, Unterstützung oder Zustimmung handelt.
- Anerkennung der Pflicht, offiziell und unverzüglich mit der Suche von als verschwunden gemeldeten Personen zu beginnen. Dies sollte nach einem festgelegten Verfahren erfolgen, das die Befragung von Experten, zivilgesellschaftlichen Organisationen
und den Familien der verschwundenen Personen mit einschließt. Es sollten Arbeitsmethoden entwickelt werden, um so früh wie möglich innerhalb der ersten 72 Stunden nach dem Verschwinden zu reagieren. Die Suche sollte weitergehen, bis das Schicksal oder der Aufenthaltsort des Opfers vollständig aufgeklärt ist.
- Alle Fälle von Verschwinden und gewaltsamem Verschwinden von Personen im Land müssen zügig, gründlich und unparteiisch untersucht werden. Die Verantwortlichen müssen ggf. vor Gericht gestellt und einem ordentlichen Verfahren unterzogen werden.
- Die Angehörigen der verschwundenen Personen müssen anerkannt und an den Untersuchungen beteiligt werden. Man muss für sie aktuelle und wahrheitsgemäße Informationen bereitstellen und zulassen, dass sie selbst Informationen beisteuern, Ermittlungslinien vorschlagen und Beweise fordern. Die Behörden dürfen die Last der Untersuchung des Falles nicht auf die Familien abwälzen.
- Bezüglich der Vermisstenanzeige und der Rechte von verschwundenen Personen sollten detaillierte Rechtsvorschriften erlassen werden, die den Schutz der Rechtsstellung und weiterer Rechte der verschwundenen Person sowie deren Eigentumsrechte und die der Familie klar definieren. Mit Erstattung der Anzeige sollten alle Verpflichtungen zu Lasten der verschwundenen Person ausgesetzt werden, einschließlich der Erhebung von Zinsen auf Schulden jedweder Art. Das Gesetz sollte gewährleisten, dass der Prozess und alle Formalitäten, die damit in Verbindung stehen, einfach, zugänglich und kostenfrei sind.
- Eine vollständige Entschädigung der Opfer muss gewährleistet sein. Dabei sollte der Einzelfall jedes Opfers berücksichtigt werden. Dies schließt Maßnahmen zur Wiederherstellung, Rehabilitation, Abfindung, Nicht-Wiederholung, das Recht auf die Wahrheit und auf die historische Erinnerung ein. Eine Entschädigung sollte unabhängig davon erfolgen, ob ein Strafprozess gegen die Verursacher in Gang gesetzt wird.
Zum englischen bzw. spanischen Amnesty-Bericht.
Stand: 31.03.2016