Statistiken über Verschwindenlassen sind durch männliche Opferlisten geprägt, auch weil sie sich meist nur auf die sogenannten „direkten“ Opfer beziehen. Dabei sind Mädchen und Frauen in vielfältigen Formen genauso Opfer von Verschwindenlassen. Einerseits sind sie direkte Opfer und als solche geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Andererseits sind sie indirekte Opfer, da sie als suchende Familienangehörige struktureller Gewalt und staatlichen Repressionsstrukturen ausgesetzt sind.

Jeremy Seedorf   21. September 2020

Die UNO Generalversammlung definiert im Internationalen Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen „jede natürliche Person, die als unmittelbare Folge eines Verschwindenlassens geschädigt worden ist“ als Opfer von Verschwindenlassen. Diese Definition umfasst also die direkten Opfer, nach welchen gesucht wird, wie auch die Familienangehörigen und das soziale Umfeld der verschwundenen Person.

Weibliche Opfer von Verschwindenlassen erfahren andere Formen der Gewalt als männliche Opfer. Frauen und Mädchen werden beispielsweise meist auch Opfer sexualisierter Gewalt. Aus Vergewaltigungen resultierende Schwangerschaften sowie nicht registrierte Geburten in Gefangenschaft und anschließende illegale Adoption (nicht selten von den Entführern selbst) sind ebenso geschlechtsspezifische Formen der Gewalt.

Weibliche Familienangehörige als indirekte Opfer von Verschwindenlassen erfahren auf vielfache Weise Diskriminierung und Ausgrenzung. Mütter von Verschwundenen werden nicht selten von der Gemeinde und/oder Familie ausgegrenzt. Oder sie werden beschuldigt nicht ausreichend auf ihre Kinder aufgepasst zu haben. Dass sie auf der Suche nach den Verschwundenen auch mit Männern interagieren müssen – auch wenn dies von männlichen Gemeindemitgliedern geächtet wird, verstärkt die Ausgrenzung.

In Mexiko werden nach dem vorherrschenden traditionellen Rollenbild die Männer als Versorger der Familie angesehen und genießen ein Vorrecht auf Bildung und Arbeit. Frauen dagegen sind verpflichtet die Hausarbeit, Kinderbetreuung und die Pflege älterer Familienagehöriger zu übernehmen. Nach dem Verschwindenlassens des Partners können viele Frauen aus diesem Grund keine Berufserfahrung vorweisen. Um die Familie aber weiter zu versorgen und Einkommen zu generieren, nehmen sie unterbezahlte Jobs an oder werden in die Sexarbeit gedrängt.
Die Betroffenen benötigen dieses Geld auch zur Bezahlung der während der Suche entstehenden Kosten. Die Frauen stehen vor dem Widerspruch einerseits Geld erwirtschaften zu müssen und gleichzeitig die Verschwundenen zu suchen.

Nach dem Verschwinden eines Familienangehörigen wird es Frauen außerdem erschwert Besitzrechte zu beanspruchen. So sind die Kosten für die Übertragung von Besitzdokumenten im Libanon aufgrund des geringen Einkommens unbezahlbar. Oftmals wird ihnen der Zugang zu Konten der verschwundenen Person erst dann gewährt, wenn sie diese für tot erklären. Dies stärkt allerdings dann die Sorge, dass auch die weitere Suche und Aufklärung für abgeschlossen erklärt wird. Um diese Problematik zu umgehen könnte der Staat stattdessen eine offizielle Abwesenheitserklärung ausstellen.
Haben es die weiblichen Familienangehörigen einer verschwundenen Person trotz aller Hindernisse geschafft, sich Zugang zu den zuständigen Behörden zu verschaffen, bedeutet dies noch lange nicht, dass alle Fälle gleichbehandelt werden. Staatliche Institutionen wie Gerichte und die Polizei werden noch immer von Männern dominiert. Dies hat zur Folge, dass Polizeibehörden bei der Aufklärung der Fälle von verschwundenen Frauen häufig darauf verweisen, dass „zu kurze Kleidung“ Gewalttaten provozieren würde oder, dass sie die Fälle als Liebesdramen abstempeln und nicht weiterverfolgen. Zudem werden Frauen bei der Anzeige von Fällen von Gewalt oftmals selbst Opfer von Gewalt durch die zuständigen Behörden.
Erfahrungen während der Suche nach den verschwundenen Familienangehörigen haben auch gesundheitliche Folgen. Die ständige Ungewissheit über den Aufenthaltsort einer geliebten Person und die langwierige Suche voller Hindernisse können zu Depressionen, Trauma, Angstzuständen und Schlaflosigkeit führen, die sich wiederum auf das Sozial- und Arbeitsleben auswirken.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass weibliche Familienangehörige verschwundener Personen sich aufgrund vorherrschender patriarchaler Strukturen mit verschiedenen Problemen konfrontiert sehen: Einerseits müssen sie sich weiterhin um Kinder und eventuell pflegebedürftige Familienangehörige kümmern. Andererseits müssen sie trotz Benachteiligung im Bildungs- und Gesundheitssystem für die finanzielle Sicherheit der Familie sorgen und eventuelle Traumata aufarbeiten, die sich durch den Verlust und die anschließende Suche entwickeln können.

Dies verdeutlicht die Dringlichkeit einer differenzierten Betrachtungsweise der Opfer von gewaltsamen Verschwindenlassen. Der Staat muss sicherstellen, dass sich Frauen sowohl im städtischen Raum als auch in abgelegenen Gemeinden, ihrer Rechte auf Aufklärung und auf den Zugang zu Informationen bewusst sind.

Eine weitere Aufgabe des Staates ist es stereotypische Sichtweisen bei der Aufklärung von Fällen gewaltsamen Verschwindenlassens zu verhindern. Dafür müssen Mitarbeiter*innen staatlicher Institutionen für die Anwendung einer Genderperspektive während der Suche, Untersuchung der Gründe und Folgen sowie der offiziellen Berichterstattung sensibilisiert werden. Ein erster Ansatz wären beispielsweise die Untersuchung gefundener Leichen auf sexuelle Gewalteinflüsse vor dem Tod, um Muster geschlechtsspezifischer Gewalt sichtbar zu machen.

Auch wenn in diesem Artikel vermehrt zwischen indirekten und direkten Opfern unterschieden wurde, sollte dies nur zur Orientierung dienen, nicht aber zur Hierarchisierung führen. Im Gegenteil: Familienangehörige müssen als Opfer von gewaltsamen Verschwindenlassen Schutzmaßnahmen und psychische Unterstützung vom Staat erhalten können.

Abschließend muss darauf geachtet werden, Frauen nicht nur als Opfer und Beschützerinnen darzustellen, sondern vielmehr ihre Rolle an vorderster Front im Kampf gegen das gewaltsame Verschwindenlassen hervorzuheben. Dazu ist es notwendig ihre Erlebnisse in den Vordergrund zu setzen und auf geschlechtsspezifische gesellschaftlich-kulturelle sowie staatliche Repressionsstrukturen aufmerksam zu machen.

 

Quellen

UN-Menschenrechtsrat – Arbeitsgruppe Gewaltsames Verschwindenlassen (2013):„Observacion general sobre las mujeres afectadas por las desapariciones forzadas“, Vereinte Nationen

Dewhirst, Polly; Kapur, Amrita (2015): „The Disappeared and Invisible – Revealing the Enduring Impact of Enforced Disappearance on Women“, International Center for Transnational Justice, UN Women

Organizacion de los Estados Americanos; Mecanismo de Seguimiento de la Convencion de Belém do Pará (2018): „Recomendacion General del Comité de Expertas del MESECVI (No.2) – Mujeres y niñas desaparecidas en el hemisferio“

Generalversammlung der UNO (2006): “Resolution 61/177 – Internationales Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen”, Vereinte Nationen

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