„Bis wir sie finden“ – zum Internationalen Tag der Opfer des Verschwindenlassens

Seit dem 15. Januar 2023 fehlt von dem mexikanischen Anwalt Ricardo Lagunes und dem Umweltaktivisten Antonio Díaz jede Spur. Lediglich ihr Geländewagen wurde von Schüssen durchsiebt am Straßenrand gefunden. Auf den Philippinen werden Dexter Capuyan und Gene Roz Jamil „Bazoo“ de Jesus, die sich beide für die Rechte der indigenen Bevölkerung einsetzen, seit dem 28. April vermisst. Im Jemen wurde eine ganze Gruppe verschleppt und noch immer sind zwei Frauen und neun Männer der Baha’i verschwunden. Die UN-Arbeitsgruppe gegen gewaltsames oder unfreiwilliges Verschwindenlassen hat auf ihren ersten zwei Sitzungen dieses Jahr insgesamt 1179 anhängende Fälle von Verschwundenen aus 31 Ländern, davon 497 Eilaktionen, auf neue Erkenntnisse überprüft.

Besonders dramatisch ist in diesen Fällen, dass die jeweiligen Staaten – entgegen ihrer Pflichten – die Betroffenen oftmals kriminalisieren oder gar die Suche nach den Verschwundenen verweigern. Sneider Centeno, Suami Mejía, Gerardo Tróchez und Milton Martínez, vier junge Garífuna, wurden am 18. Juli 2020 aus der Gemeinde Triunfo de la Cruz an der honduranischen Karibikküste verschleppt. Ihr Schicksal ist bis heute ungeklärt. „Wenn der Staat keine Untersuchungen umsetzt und nicht ermittelt, profitieren die Täter von Straffreiheit“, so Dr. Grażyna Baranowska. Sie hat als Mitglied der UN-Arbeitsgruppe gegen gewaltsames oder unfreiwilliges Verschwindenlassen erst im März Honduras besucht und Aufklärung eingefordert.

„Bis wir sie finden“, rufen die Familienangehörigen weltweit, die nach Verschwundenen suchen. Sie sind in allen Ländern die wichtigsten Akteur*innen, um das Schicksal der Verschwundenen dem Vergessen zu entreißen. Die Betroffenen setzen sich für Aufklärung in jedem einzelnen Fall von Verschwindenlassen ein und fordern die Einrichtung staatlicher Suchkommissionen. Gleichzeitig erwarten sie gesetzliche Rahmenbedingungen. In Mexiko haben die Kollektive suchender Familienangehöriger erreicht, dass Verschwindenlassen dort nun ein Straftatbestand ist. In anderen Ländern wäre dies ein erster wichtiger Schritt.

Das Internationale Abkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen verlangt von den Vertragsstaaten – darunter Deutschland –, dass ein Straftatbestand für gewaltsames Verschwindenlassen eingeführt wird. Deutschland engagiert sich zwar für die Beendigung der Straflosigkeit schwerer Menschenrechtsverletzungen, hat aber das Übereinkommen selbst noch nicht in nationales Recht umgesetzt. Dies wäre ein zentraler Punkt, um Täter*innen auch wegen Verschwindenlassens bestrafen zu können. Dr. Rainer Huhle, Experte des Nürnberger Menschenrechtszentrums und Mitglied der Koalition gegen Verschwindenlassen, stellt klar: „Verschwindenlassen ist ein komplexes mehrdimensionales Verbrechen, das durch einen entsprechenden Straftatbestand, der alle diese Dimensionen abdeckt, geahndet werden muss. Nur so kann das Recht auf Wahrheit für die Opfer des Verschwindenlassens umgesetzt werden.“

Hintergrund

Im Sinne des Internationalen Abkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen bedeutet Verschwindenlassen „die Festnahme, den Entzug der Freiheit, die Entführung oder jede andere Form der Freiheitsberaubung durch Bedienstete des Staates oder durch Personen oder Personengruppen, die mit Ermächtigung, Unterstützung oder Duldung des Staates handeln, gefolgt von der Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen, oder der Verschleierung des Schicksals oder des Verbleibs der verschwundenen Person, wodurch sie dem Schutz des Gesetzes entzogen wird.“

Am 30. August, dem Internationalen Tag der Opfer des Verschwindenlassens, wird weltweit jedes Jahr dem Schicksal der Opfer und ihrer Familien gedacht. Das in den 1980er Jahren gegründete lateinamerikanische Netzwerk betroffener Familienangehöriger FEDEFAM (Federación Latinoamericana de Asociaciones de Familiares de Detenidos-Desaparecidos) initiierte den Internationalen Tag gegen das Verschwindenlassen. In diesem Jahr widmen sich zwei Veranstaltungen der Koalition gegen Verschwindenlassen der Problematik.

Am 30. August erweitern Mitglieder der Koalition und das Berliner Kollektiv CADEHO ein bereits bestehendes Wandbild zur Erinnerung an die weltweiten Opfer des gewaltsamen Verschwindenlassens mit den Porträts der vier Garífuna Sneider, Suami, Gerardo und Milton im Hof von Haus Schwarzenberg in Berlin Mitte (Rosenthaler Straße 39).

Im Rahmen der Online-Vorführung des Films „Briefe für eine Zukunft“ diskutieren am 31. August die Mitgründerin eines Familienkollektives María Luisa Núñez Barojas (Mexiko), die Filmemacherin Itzell Sánchez Martínez (Mexiko) und Dr. Grażyna Baranowska, Mitglied der UN-Arbeitsgruppe gegen gewaltsames oder unfreiwilliges Verschwindenlassen, über die Suche nach verschwundenen Kindern und Jugendlichen.

Die deutsche Koalition gegen Verschwindenlassen veröffentlicht auf ihrer Website Hinweise zu Aktionen und Veröffentlichungen rund um den 30.08.

Die Koalition gegen Verschwindenlassen ist ein Bündnis von Nichtregierungsorganisationen, Forschungsinstitutionen und Einzelpersonen, das sich seit dem Jahr 2015 gegen das Verschwindenlassen von Personen einsetzt. Zu den institutionellen Mitgliedern zählen Brot für die Welt, Carea e.V., Deutsche Menschenrechtskoordination Mexiko, Elisabeth-Käsemann-Stiftung, Instituto Colombo-Alemán para la Paz – CAPAZ, Nürnberger Menschenrechtszentrum, Ökumenisches Büro München und Partner Südmexikos e.V.

Filmvorführung (45 min.) + anschließende Online-Diskussion
Sprachen: Spanisch und Deutsch (Simultanverdolmetschung)
Wir bitten um Anmeldung bis zum 30.8. an: mex@oeku-buero.de

Bleiben Sie informiert und abonnieren Sie unseren Newsletter „Verschwindenlassen“.
Alle drei Monate erscheint unser Newsletter mit einer Zusammenfassung der neusten Beiträge der Homepage und Neuigkeiten zum Thema Verschwindenlassen aus aller Welt.

Wenn Sie den Newsletter abonnieren möchten, tragen Sie sich bitte mit den folgenden Angaben in dieses Formular ein:

×