Die Praxis des gewaltsamen Verschwindenlassens in Syrien ist nicht neu. Viele Fälle wurden bereits vor den Protesten von 2011 gemeldet. Lange bevor Baschar Al Assad überhaupt an die Macht kam, hielt sein Vater politische Feinde und alle, die seine Herrschaft in Frage stellten, in Haft. Das Ausmaß, in dem sie ihren Familien entrissen wurden, explodierte jedoch aufgrund der Massendemonstrationen und des anschließenden Konflikts.
5.Mai 2020 von Anna Fleischer [0]
Als die friedliche Revolution 2011 begann, war die Kernforderung der allerersten Proteste tatsächlich die Freilassung der politischen Gefangenen. Die Massenproteste brachen aus, nachdem einige Jugendliche willkürlich festgenommen und gefoltert worden waren, weil sie ein Graffiti gemalt hatten. Die Syrer*Innen gingen auf die Straße, um ihre Freilassung zu fordern, und bald tauchten viele weitere Forderungen auf, die seit vielen Jahren unter der Oberfläche brodelten: Gerechtigkeit und Freiheit. Als Reaktion darauf wandte Baschar Al Assad die Taktiken an, mit denen das Regime bereits gut vertraut war: Verhaftungen und Gewalt sowie Folter in der Haft. Diese Taktik ist sowohl als Strafe als auch als Abschreckung für andere gedacht. Es war den Syrer*Innen, die sich gegen das Regime aussprachen, immer klar, dass die Inhaftierung eine wahrscheinliche Folge jeder Opposition ist. Ganze Familien haben von der Inhaftierung berichtet, wenn sie schon vor 2011 politisch aktiv waren. In Gesprächen mit lebenslangen Gegnern des Assad-Regimes sind Geschichten von Festen, Familienfeiern und Geburtstagen immer mit Erinnerungen an Gefängnisbesuche verbunden.
Aufgrund des Mangels an Informationen durch den Sicherheitsapparat sind Verhaftungen in Syrien fast gleichbedeutend mit gewaltsamem Verschwindenlassen
Angesichts der überwältigenden Zahl von Protesten während der Revolution, rüstete der Staat seinen Sicherheitsapparat auf, Abertausende wurden inhaftiert. Oft wurden sie nach einer bestimmten Zeit wieder freigelassen, viele werden jedoch bis heute vermisst. Informationen des Sicherheitsapparates über Verhaftungen, Haftorte usw. gibt es in der Regel nicht. So wissen also viele Syrer*Innen, dass jemand verhaftet wurde, aber nach diesem Zeitpunkt haben sie keine Informationen über den Verbleib der Person. Daher handelt es sich bei der Inhaftierung in Syrien im Wesentlichen um gewaltsames Verschwindenlassen, denn das gewaltsame Verschwindenlassen bezeichnet “die Festnahme, den Entzug der Freiheit, die Entführung oder jede andere Form der Freiheitsberaubung durch Bedienstete des Staates oder durch Personen oder Personengruppen, die mit Ermächtigung, Unterstützung oder Duldung des Staates handeln, gefolgt von der Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen, oder der Verschleierung des Schicksals oder des Verbleibs der verschwundenen Person, wodurch sie dem Schutz des Gesetzes entzogen wird” [1]. In den meisten Fällen beziehen sich die einzigen überprüfbaren Informationen auf die Umstände, unter denen das Opfer zuletzt lebendig und frei gesehen wurde.
Opfer des gewaltsamen Verschwindenlassens sind nach Artikel 24 (1) des Internationalen Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen „die verschwundene Person sowie jede natürliche Person, die als unmittelbare Folge eines Verschwindenlassens geschädigt worden ist.“ Hinter dem Namen jeder verschwundenen Person verbergen sich somit weitere Opfer, darunter oftmals Kinder, Ehepartner, Geschwister und Eltern der verschwundenen Person [2]. Die Verletzungen ihrer Rechte, die Rechte der Angehörigen müssen stets in Betracht gezogen werden. Da in Syrien die Mehrzahl der verschwundenen Häftlinge männlich ist, handelt es sich dabei hauptsächlich um Frauen und Kinder [3].
Die geschlechtsspezifischen Auswirkungen des gewaltsamen Verschwindenlassens im Fall Syriens
Die Auswirkungen des gewaltsamen Verschwindenlassens auf Angehörige der vermissten Person, insbesondere auf Frauen und Kinder, wurden jedoch bisher nicht angemessen berücksichtigt. Viele syrische Familien leiden im Stillen. Gerade Frauen, deren Angehörige verschwunden worden sind, gelten auch aufgrund der traditionellen Geschlechterrollen in der syrischen Gesellschaft als besonders vulnerabel, sie geraten eher in Armut, Depression und Isolation. „Auch wenn sich das Ausmaß des Verschwindenlassens während des Konflikts vergrößert hat, haben die Erfahrungen der Frauen mit dem gewaltsamen Verschwindenlassen ihre Wurzeln in der patriarchalischen Gesellschaft Syriens, die bereits vor Ausbruch des Konflikts bestand. Folglich sind geschlechtsspezifische Ungleichheiten und soziale Ungerechtigkeiten ein bereits bestehender Teil der sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen innerhalb des Landes. Dies spiegelt sich auch in den diskriminierenden und ausgrenzenden Gesetzen Syriens wider, insbesondere in Bezug auf Ehe, Eigentumsrechte und Sexualdelikte, welche die institutionalisierte Ungleichheit noch verschärfen“ [4].
Bedingt durch die traditionellen Geschlechterrollen in der syrischen Gesellschaft geraten Frauen eher in Armut, Depression und Isolation
Drei geschlechtsspezifische Auswirkungen des Verschwindenlassens in Syrien sind besonders hervorzuheben: Erstens sind Frauen häufig ohne Einkommen und daher besonders vulnerabel, wenn der Haupternährer der Familie verschwindet. Zweitens müssen Frauen weiterhin die Fürsorge für die Kinder übernehmen, während sie Angst, Beklemmung und Depressionen durchleben, was mit einer sehr hohen psychologischen Belastung einhergeht. Drittens dürfen Frauen, die Opfer des Verschwindenlassens werden, nicht wieder heiraten, erben oder gar mit ihren Kindern von einem Ort zum anderen reisen, da all dies entweder die Zustimmung des Ehemannes oder den Nachweis seines Todes erfordert. Viele syrische Frauen haben jedoch weder für eine Verhaftung noch für den Tod ihres Mannes einen Beweis und bleiben deshalb in der Schwebe. „In Gesellschaften, in denen geschlechtsspezifische Diskriminierung in Gesetzen und Politiken die volle Verwirklichung der Menschenrechte von Frauen verhindert und ihre Autonomie und Teilnahme an Bereichen des öffentlichen und politischen Lebens einschränkt, sind die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Verschwindenlassens von Frauen stärker spürbar und machen Frauen und ihre Kinder wiederum vulnerabler für Ausbeutung und soziale Marginalisierung“, so die ehemalige stellvertretende Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Kyung-wha Kang [5].
Frauen als Aktivistinnen und Fackelträgerinnen des Themas der Verschwundenen
Neueren Untersuchungen zufolge verändern sich die Geschlechterrollen der Syrer*Innen. Dies hat mehrere Gründe. Einer davon ist, dass die schiere Abwesenheit von Männern in Syrien alle Geschlechterbeziehungen zu einem Wandel gezwungen hat: Zum Einen werden Männer seit Beginn des Konflikts häufig vermisst, weil sie verstorben, inhaftiert oder verschwunden sind, zum Anderen sind viele von Ihnen geflohen und dürfen aufgrund der strengen Regelungen bezüglich des Aufenthalts und der Arbeit für Geflüchtete, zum Beispiel im Libanon, nicht ausreisen [6]. Die weiblichen Angehörigen der Verschwundenen und Inhaftierten mussten in der Folge zwangsläufig in ihren Familien mehr Verantwortung übernehmen und etwa die Rolle als Ernährerin und vor allem als Entscheidungsträgerin der Familie einnehmen.
Sie haben jedoch nur Zugang zu schlecht bezahlten, unsicheren Arbeitsplätzen, oft weit weg von ihren Familien, was wiederum ihr Risiko der Ausbeutung erhöht und das Wohlergehen und die Bildungschancen ihrer Kinder gefährdet. Darüber hinaus verstärkt der unsichere rechtliche Status der Verschwundenen, die offiziell weder als tot, noch lebendig gelten, die finanzielle Unsicherheit der Familie. Tatsächlich haben die Ehefrauen der Verschwundenen oft keinen Zugriff auf das Familienvermögen und die Bankkonten, die in der Regel auf den Namen ihres Ehemannes geführt werden, oder es werden ihnen staatliche Sozialleistungen verweigert, die verheirateten Frauen vorbehaltenen sind [7]. Dies gilt auch für den Fall, dass sie sich entscheiden, zu fliehen, denn verheiratete Frauen haben geringere Möglichkeiten von der internationalen Flüchtlingshilfe unterstützt zu werden, als beispielsweise Witwen. Da die Angehörigen der Verschwundenen auf dem Papier verheiratet sind, haben sie somit keinen Anspruch auf die gleichen Hilfen wie ledige oder verwitwete Frauen.
Frauen von Verwandten der Verschwundenen und der Inhaftierten mussten in ihren Familien neue Rollen als Ernährer und Entscheidungsträger für ihre Angehörigen übernehmen
Die einzige Möglichkeit für viele Ehefrauen bestünde darin, den Tod ihres Mannes zu erklären, doch selbst dann sind Sterbeurkunden wenn überhaupt erst einige Zeit nach seinem Verschwinden erhältlich. Viele Frauen zögern jedoch, dies zu tun, weil sie sich schuldig fühlen, die Hoffnung aufgegeben zu haben [8]. Dies verdeutlicht die psychische Belastung, der sie tagtäglich ausgesetzt sind. Sie befinden sich im Wesentlichen in einem Schwebezustand zwischen der Trauer über ihren Verlust und der Hoffnung auf die Rückkehr des geliebten Menschen. Auch wenn die Ehefrauen von Verschwundenen mit ihrer eigenen Situation zu kämpfen haben, unterstützen sie häufig andere Frauen, denen ein ähnliches Schicksal widerfahren ist. Die Familien der Verschwundenen kennen sich oft gut und identifizieren sich über ihr gemeinsames Leiden miteinander.
Ob der Täterschaft des syrischen Staates in Fällen des Verschwindenlassens, sehen sich viele Frauen gezwungen, sich selbst auf die Suche nach ihren Angehörigen zu machen, obwohl auch ihnen Inhaftierung und Misshandlung durch den Sicherheitsapparat droht. Dabei nutzen sie auch inoffizielle Kanäle und zahlen gar Bestechungsgelder, um an Informationen über den Verbleib ihres Ehemanns zu gelangen. Trotz der Härten und Belastungen, denen die syrischen Frauen ausgesetzt sind, die durch das Verschwinden ihrer Verwandten noch verschärft wurden, haben sie einen Weg gefunden, weiterzumachen und ihre Familien finanziell und moralisch zu unterstützen [9].
Familien für die Freiheit
Infolge des zunehmenden Engagements von Frauen bezüglich des gewaltsamen Verschwindenlassens gab es den Willen, zusammenzukommen und sich zu organisieren. Eine der Gruppen, die sich daraufhin bildeten, ist Families For Freedom, die in Genf gegründet wurde. Dies ist eine von Frauen angeführte Bewegung, welche die Wahrheit über den Verbleib ihrer vermissten Angehörigen fordert. Trotz einer überwältigenden Furcht vor Repressalien für ihre womöglich inhaftierten Familienangehörigen, ihre Familien und sich selbst wächst die Gruppe weiter an und versucht jede Familie mit einer inhaftierten oder vermissten Person einzubeziehen, unabhängig von Religion, politischer Überzeugung oder ethnischer Zugehörigkeit. Die Bewegung begann mit einer Kerngruppe erfahrener Aktivistinnen und Mobilisatorinnen. Sie begannen, an der Entwicklung von Forderungen und einer gemeinsamen Agenda zu arbeiten. In einem zweiten Schritt wurden lokale Sektionen gegründet, um die Bewegung breiter zu verankern.
Als Ergebnis einer verstärkten Beteiligung von Frauen an der Frage des gewaltsamen Verschwindenlassens gab es den Willen, zusammenzukommen und sich zu organisieren
Der Kerngruppe gelang es, die Zahl der Mitglieder erheblich zu vergrößern. So gibt es inzwischen lokale Gruppen im Libanon, in der Türkei, in Deutschland, im Vereinigten Königreich und in Syrien. Die lokale Arbeit der Gruppe ist wesentlich, da eine solche Bewegung nur durch die Mobilisierung vieler Personen, die sich mit ihren Forderungen identifizieren und die Arbeit der Bewegung weiterentwickeln kann, den nötigen Einfluss erreichen kann. Dies haben andere bekannte Bewegungen wie die Mütter der Plaza de Mayo in Argentinien deutlich gezeigt: „Alles begann mit einer Gruppe von 14 Frauen, die wissen wollten, wo ihre Enkel*Innen sind. Sie wollten die Wahrheit wissen: wann, warum und wer sie verschwinden ließ “ [10].
Die Forderungen der Familien
Als Families for Freedom gegründet wurde, begann die Kerngruppe der Aktivisten mit der Arbeit an ihren gemeinsamen Forderungen [11] und präsentierten die folgenden Forderungen bei den Vereinten Nationen in Genf [12]:
– Die sofortige Veröffentlichung einer Liste der Namen allen Gefangenen, zusammen mit ihrem derzeitigen Aufenthaltsort und Status, und die sofortige Einstellung von Folter und Misshandlung. Im Falle des Todes eines Häftlings muss den Familien ein Totenschein zusammen mit einem Bericht über die Todesursache und den Ort der Bestattung vorgelegt werden.
– Druck auf die syrische Regierung ausüben, damit sie internationalen humanitären Organisationen die sofortige Lieferung von Nahrungsmitteln und medizinischer Hilfe gestattet und internationalen Menschenrechtsgruppen Zugang zu Haftanstalten gewährt, damit sie die Lebensbedingungen genau überwachen können, um zu gewährleisten, dass die zivilen Haftanstalten einem gesunden Lebensstandard entsprechen.
– Abschaffung der Sondergerichte, insbesondere der Feld-, Kriegs- und Antiterrorismusgerichte, und Gewährleistung fairer Gerichtsverfahren unter Aufsicht der Vereinten Nationen.
– Alle Verantwortlichen aller Seiten und insbesondere die syrische Regierung zur Rechenschaft zu ziehen für die Taten, die sie gegen die willkürlich Inhaftierten und ihre Familien begangen haben und weiterhin begehen, als einen wesentlichen Schritt auf dem Weg zur Gerechtigkeit.
Auf der Grundlage der Untersuchungen von Women Now for Development und Dawlaty zu den weiblichen Angehörigen der Verschwundenen können wir schließen, dass es darüber hinaus einige weitere gemeinsame Forderungen [13] unter den Familien gibt, die bisher noch nicht zu diesem Thema mobilisiert wurden, darunter das Recht, das Schicksal und den Verbleib der verschwundenen/verhafteten Familienmitglieder zu erfahren, und die Notwendigkeit spezieller Unterstützungsprogramme für die Familien der Verschwundenen, einschließlich Renten, Bildung, medizinische Behandlung und Arbeitsplätze für Familienmitglieder.
Speziell auf lokaler Ebene, wo weibliche Familienangehörige schutzbedürftig sind, wird der Gedanke der Gerechtigkeit ganzheitlicher als nur die strafrechtliche Rechenschaftspflicht verstanden und schließt soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit ein.
Laut Yasmine, der Koordinatorin der lokalen Gruppe von Families for Freedom im Libanon, diskutieren die Familien über Gerechtigkeit und darüber, wie sie die Parteien, die ihre Angehörigen festhalten oder verschwinden lassen, zur Rechenschaft ziehen können. Die meisten weiblichen Verwandten des libanesischen Ortsverbandes sind Opfer des Assad-Regimes, aber es gibt auch solche, die Opfer bewaffneter Gruppen sind [14].
Besonders auf lokaler Ebene, wo weibliche Angehörige besonders vulnerabel sind und keinen Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen haben, wird die Idee der Gerechtigkeit ganzheitlicher betrachtet. Sie schließt soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit ein, was eine geschlechtersensible Perspektive auf ihre Lebenserfahrung als Ganzes erfordert [15]. Sie sind Geflüchtete, weiblich, ihrer Rechte beraubt und Angehörige einer vermissten Person, was ihre Verwundbarkeit erheblich erhöht.
Bildungschancen sind daher ein entscheidendes Element, um sich in der Verantwortung zurechtzufinden, und eine Chance, die Auswirkungen der Belastungen zu mildern. Auf einer ersten Ebene sind Alphabetisierungsmöglichkeiten für Frauen mit minimaler bis gar keiner formalen Bildung von entscheidender Bedeutung, um Verwaltungsverfahren in den Verwaltungseinrichtungen und Gefängnissen bemühen zu können. Die Berufsausbildung hingegen kann die Zahl der Arbeitsplätze, die Frauen ausüben und besetzen können, erhöhen. Erhöhte Bildungschancen ermöglichen den weiblichen Angehörigen, höhere Entschädigungen und Gehälter auszuhandeln und ihre Selbstständigkeit und ihr Selbstvertrauen zu stärken. Darüber hinaus kann der Zugang zu höherer Bildung für diejenigen mit ausreichender formaler Vorbildung ein Schlüssel sein, um widerstandsfähiger zu werden.
Durch die gemeinsame Trauer und die gegenseitige Unterstützung konnten sich die weiblichen Verwandten gegenseitig ermutigen, aktiver und offener zu werden.
Sowohl in der Kerngruppe als auch in den lokalen Gruppen gibt es durch Aktivitäten und Advocacy-Arbeit einen Wandel in der Denk- und Handlungsweise der Frauen. Laut Asmaa Al Farraj, die sowohl Mitglied der Kerngruppe als auch Koordinatorin der Ortsverbände in Manchester, Großbritannien, ist, war die anfängliche Kommunikation zwischen den Familien schwierig, da sie ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit verspürten. Die Art und Weise, wie die Inhaftierung und das gewaltsame Verschwindenlassen in Syrien als Waffe des Krieges und der Unterdrückung eingesetzt wird, hinterlässt bei den Angehörigen ein Gefühl der völligen Ohnmacht, insbesondere wenn sie Syrien verlassen haben und deshalb nicht mehr physisch nach ihren Angehörigen suchen können. Dadurch sind sie oft emotional und psychisch völlig isoliert, sehnen sich nach ihrem geliebten Menschen, fühlen sich aber gleichzeitig schuldig, weil sie nicht mehr vor Ort aktiv suchen. Doch durch die gemeinsame Trauer und die gegenseitige Unterstützung konnten sich die weiblichen Verwandten gegenseitig ermutigen, aktiver und offener zu werden [16]. Dies spiegelt sich auch in der libanesischen Lokalgruppe wider, wo die Frauen nicht mehr bereit sind, ihre Position als Opfer zu akzeptieren und sichtbarer werden und ihre Forderungen lautstark einfordern wollen. Als Folge ihrer Mobilisierung auf lokaler Ebene entwickeln sie Ideen für Aktivitäten und sogar Advocacy-Arbeit, die sowohl lokal als auch international durchgeführt wurde [17].
Es ist deutlich geworden, dass für die Frauen das psychische Leiden zunächst die größte Hürde dafür ist, sich an diesen Aktivitäten zu beteiligen, weil es die Angehörigen dazu bewegt, sich aktiv mit der verschwundenen Person auseinanderzusetzen. Nach Überwindung dieser anfänglichen Hürde jedoch lassen sich erheblich Fortschritte auch psychologischer Natur feststellen („Ich weiß, dass ich nicht allein bin und dass es andere gibt, die genauso sind wie ich“). Für viele Frauen stellt sich ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Trostes ein („Diese Familien sind jetzt meine eigene Familie“), welches Ihnen lange Zeit gefehlt hatte.
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Fußnoten:
[0] Dieser Text mit dem Originaltitel:“Gender impact of enforced disappearances in Syria“ erschien als erstes in Peace in Progress – Where are the missing? (Nr. 38) im Mai 2020 und wurde von Nils Lieber (NMRZ) ins Deutsche übersetzt. Die Autrorin des Textes Anna Fleischer arbeitet zu Syrien und speziell zu Frauenrechten und Mobilisierung an der Basis. In diesem Zusammenhang ist sie besonders daran interessiert, die Stimme der lokalen Frauen zu Themen wie Inhaftierung und Verschwindenlassen zu stärken. In ihrer früheren Rolle als Advocacy- und Kommunikationsmanagerin bei der syrischen Frauenrechtsorganisation Women Now for Development begleitete sie die Bewegung „Familien für Freiheit“ von ihren Anfängen bis heute. Heute ist sie Programmkoordinatorin im Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut. Sie studierte Politikwissenschaft, Nahost-Studien und Arabistik in Deutschland, Großbritannien und Ägypten.
[1] Protecting women from the impact of enforced disappearances”, OHCHR, 2012
[2] The Disappeared and Invisible”, ICTJ, 2015.
[3] Weltweit sind schätzungsweise zwischen 70 und 94 Prozent aller Verschwundenen männlich. In Syrien wird die Zahl der männlichen Verschwunden als sehr hoch geschätzt, jedoch liegen uns hierzu keine konkreten Zahlen vor. Es gibt ebenfalls eine geringe Anzahl an weiblichen Gefangenen, wir werden uns jedoch in diesem Beitrag auf die Auswirkungen auf die Angehörigen von Gefangenen fokussieren statt auf weibliche Gefangene. Die Analyse der Vulnerabilität von weiblichen Gefangenen im syrischen Kontext ist wichtig, übersteigt jedoch den Rahmen dieses Beitrags.
[4] Shadows of the Syrian Disappeared: Testimonies of Female Relatives Left with Loss and Ambiguity, Dawlaty and Women Now for Development, 2018.
[5] “Protecting women from the impact of enforced disappearances”, OHCHR, 2012.
[6] Gender Justice and Feminist Knowledge Production in Syria, Women Now for Development, 2019.
[7] Kapur, Amrita: “Overlooked and invisible: the women of enforced disappearances”, 14 April 2015.
[8] Ibid.
[9] Shadows of the Syrian Disappeared: Testimonies of Female Relatives Left with Loss and Ambiguity, Dawlaty and Women Now for Development, 2018.
[10] “Protecting women from the impact of enforced disappearances”, OHCHR, 2012.
[11] See Families for Freedom
[12] “Detainees’ Families Ask Geneva to Raise Issue of Detainees Above Negotiations”, Enab Baladi, 2017.
[13] Shadows of the Syrian Disappeared: Testimonies of Female Relatives Left with Loss and Ambiguity, Dawlaty and Women Now for Development, 2018.
[14] Interview mit Yasmine, 05/02/2020.
[15] Gender Justice and Feminist Knowledge Production in Syria, Women Now for Development, 2019.
[16] Interview mit Asmaa, 08/02/2020.
[17] Interview mit Yasmine, 05/02/2020.
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