Der UN-Ausschuss zum Schutz vor dem gewaltsamen Verschwindenlassen hat Kriterien für Verschwindenlassen in Haft definiert. Die Verlegung eines Inhaftierten in Einzelhaft, ohne dessen Angehörige oder Rechtsbeistand zu informieren bei gleichzeitiger Weigerung, über den neuen Aufenthaltsort Auskunft zu geben, entspricht geheimer Haft. Mit dieser Entscheidung in einem Einzelfall aus Argentinien hat der UN-Ausschuss sein erstes Individualbeschwerdeverfahren abgeschlossen.

1. August 2016 von Christiane Schulz

Im März 2016 hat der UN-Ausschuss über das Verschwindenlassen (Committee on Enforced Disappearances) die erste Entscheidung zu einer Individualbeschwerde veröffentlicht. Die Individualbeschwerde nach Art. 31 des Internationalen Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (CPED) [1] ist für Einzelpersonen eine Möglichkeit, bei Verletzung des Übereinkommens zum Schutz vor Verschwindenlassen Beschwerde beim UN-Ausschuss einzureichen [2]. Die Vertragsstaaten des Übereinkommens müssen Art. 31 durch Abgabe einer Erklärung explizit anerkennen. Dies haben bisher 19 der 52 Vertragsstaaten getan [3].

Der Fall Roberto Agustín Yrusta Roberto 

Agustín Yrusta wurde von einem argentinischen Gericht im Dezember 2005 zu acht Jahren Haft verurteilt. Über einen Zeitraum von mindestens drei Jahren wurde er in der Haft geschlagen und misshandelt; im November 2012 zeigte er daher die Mitarbeitenden des Gefängnisses von Córdoba an. Aus Sorge um sein Leben bat Roberto Augustín Yrusta um seine Verlegung von Córdoba nach Santiago del Estero, wo Familienangehörige lebten. Am 16. Januar 2013 wurde er jedoch nach Coronda verlegt, etwa 660 Kilometer entfernt von Santiago del Estero. Er stimmte der Verlegung zu, da er annahm, seiner Bitte entsprechend nach Santiago del Estero verlegt zu werden. Nach Ankunft in der Haftanstalt in Coronda hatte er mindestens sieben Tage lang keine Möglichkeit, mit Angehörigen in Kontakt zu treten. Seine Familie wurde we-der über die Verlegung informiert noch wurden Anfragen der Familie über seinen Aufenthaltsort beantwortet. Erst nach mehreren Tagen konnte Roberto Agustín Yrusta mit Familienangehörigen telefonieren und über seine Haftverlegung nach Coronda berichten.Am 7. Februar 2013 – vier Monate vor Ent-lassung auf Bewährung und zehn Monate vor seiner endgültigen Entlassung – informierten Mitarbeitende der Haftanstalt die Familie über den Selbstmord von Roberto Agustín Yrusta. Die Autopsie habe Tod durch Ersticken ergeben. Die Familie nahm den Leichnam einen Tag später entgegen. Arme und Füße des Toten waren angeschwollen, er wies offene Wunden auf sowie große Blasen und Einschnitte an den Armen. Es gab keine offensichtlichen Druckstellen am Hals, die auf Strangulation hinwiesen. Die Familie legte daraufhin Rechtsmittel ein, um eine zweite Autopsie einzufordern und die Umstände des Todes aufzuklären.

Die Beschwerde

Die Antragstellerinnen, zwei Schwestern von Herrn Yrusta, legten nach Ausschöpfung inner-staatlicher Rechtsmittel beim UN-Ausschuss über das Verschwindenlassen eine Individualbeschwerde gegen den argentinischen Staat vor. Die Schwestern sahen eine Reihe von Artikeln des Übereinkommens zum Schutz vor Verschwindenlassen verletzt: Die Situation nach der Haftverlegung erfül-le den Tatbestand des Verschwindenlassens. Des Weiteren seien ihre Rechte als Familienangehörige missachtet worden, da sie nicht über den Aufenthaltsort des Inhaftierten informiert worden seien. Als Familienangehörige hätten sie keinen Zugang zu Rechtsmitteln gehabt, um als Nebenklägerinnen Informationen über die Ereignisse während des zeitweisen Verschwindenlassens in Haft und zu den Todesumständen zu erhalten.

Das Verfahren

In einem schriftlichen Verfahren holte der UN-Ausschuss über das Verschwindenlassen weitere Informationen von den Antragstellerinnen und vom Vertragsstaat ein. Am 8. Februar 2015 erklärte sich der UN-Ausschuss für zuständig, den Fall unter Art. 31 Abs. 2 CPED zu bearbeiten und zog dabei folgende Aspekte in Betracht:–Roberto Agustín Yrusta wurde im Kontext seiner Verlegung von Córdoba nach Coronda über den Zeitraum von mindestens sieben Tagen mutmaßliches Opfer von Verschwindenlassen.–Die Familie wurde nicht über den Aufenthaltsort nach der Haftverlegung informiert.–Der Familie war es über einen Zeitraum von mindestens sieben Tagen unmöglich, mit Roberto Agustín Yrusta zu kommunizieren.–Rechtliche Möglichkeiten für die Familienangehörigen, nach der Haftverlegung die Recht-mäßigkeit der Situation von Roberto Agustín Yrusta vor einem Gericht überprüfen zu lassen, wurden ausgeschlossen.–Eine Nebenklage der Antragstellerinnen hinsichtlich des mutmaßlichen gewaltsamen Verschwindenlassens wurde von argentinischen Gerichten abgewiesen.Der UN-Ausschuss stellte fest, dass die bisheri-gen Untersuchungen zu den Todesumständen des Betroffenen nicht ausreichen, um den gesamten Tatbestand zu erfassen und das Recht auf Schutz vor Verschwindenlassen umzusetzen. Zwar seien die Untersuchungen zu den Todesumständen noch nicht abgeschlossen, aber der Vertragsstaat Argentinien habe weder Angaben über Untersuchungen hinsichtlich des Tatbestands des Verschwindenlassens gemacht noch über die Möglichkeiten der Familie, ein Verfahren zur Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung im Zuge der Haftverlegung vor Gericht einzuleiten. Diese beiden Aspekte betreffen direkt das Übereinkommen zum Schutz vor Verschwindenlassen. Nationale Rechtswege hatten die Familienangehörigen ausgeschöpft. Die argentinischen Gerichte hatten dabei weder den Tatbestand des Verschwindenlassens von Roberto Agustín Yrusta überprüft noch den Familienangehörigen Zugang zur nationalen Gerichtsbarkeit im Sinne des Übereinkommens zum Schutz vor Verschwindenlassen gewährt. Damit fällt die Individualbeschwerde unter die Kompetenz des UN-Ausschusses über das Verschwindenlassen [4].

Die Erwägungen des UN-Ausschusses

Nach Art. 2 CPED beginnt die Tat des Verschwindenlassens mit der Festnahme oder einer anderen Form des Freiheitsentzugs – im vorliegenden Fall war es eine Gefängnisstrafe. Ein legaler Freiheits-entzug, so der UN-Ausschuss, kann sich zu einem Fall von Verschwindenlassen entwickeln. Dies ist dann gegeben, wenn der Verbleib der Person verschleiert wird, wodurch diese dem Schutz des Gesetzes entzogen wird. Die Behörden hatten die Familienangehörigen weder über die Haftverlegung informiert noch deren Anträge auf Unterrichtung über den neuen Aufenthaltsort von Roberto Agustín Yrusta beantwortet. Eine Haftverlegung bei gleichzeitiger Weigerung, die Familienangehörigen über den neuen Aufenthaltsort zu informieren, entspricht dem UN-Ausschuss zufolge der Verschleierung des Schicksals des Betroffenen. Auch wurde dem Inhaftierten selbst keinerlei Möglichkeit gegeben, jemanden über seinen Aufenthaltsort in Kenntnis zu setzen. Er war damit dem Schutz des Gesetzes entzogen – weder er noch Familienangehörige hatten Zugang zu Rechtsmitteln.

Der UN-Ausschuss kommt zu der Erkenntnis, dass die mindestens sieben Tage dauernden Ereignisse nach der Haftverlegung von Roberto Agustín Yrusta dem Tatbestand des gewaltsamen Verschwindenlassens nach Art. 1 und 2 CPED entsprechen. Außerdem wurden sowohl Art. 17 (Schutz vor geheimer Haft) als auch Art. 18 (Recht auf Zugang zu Informationen für Verwandte und andere berechtigte Personen) des Übereinkommens zum Schutz vor Verschwindenlassen verletzt. Der UN-Ausschuss stellt fest, dass der Staat eine besondere Schutzverpflichtung gegenüber in Haft befindlichen Personen hat. Ein Freiheitsentzug darf zu keinem Zeitpunkt geheim sein oder ein Verschwindenlassen darstellen.Weder der Inhaftierte noch seine Familie waren über die Verlegung und den neuen Aufenthaltsort Informiert. Zusätzlich befand sich der Betroffene in Einzelhaft und ohne Möglichkeit, mit Außenstehenden zu kommunizieren. Diese Haftbedingungen entsprechen nach Auffassung des UN-Ausschusses geheimer Haft. Des Weiteren haben in Fällen von Verschwindenlassen die Familienangehörigen Opferstatus (Art.24 CPED) und eindeutig definierte Rechte. Dies beinhaltet auch das Recht auf Nebenklage, das im vorliegenden Fall missachtet wurde.

Die Empfehlungen des UN-Ausschusses

Der UN-Ausschuss über das Verschwindenlassen fordert den Vertragsstaat auf,–den Status der Familienangehörigen als Opfer anzuerkennen und eine effektive Teilnahme an den Untersuchungen zum Tod und zum gewalt-samen Verschwindenlassen ihres Bruders zu gewährleisten,–sicherzustellen, dass die Untersuchungen sich nicht nur auf den Tod von Roberto Agustín Yrusta beziehen, sondern auch das Verschwinden-lassen im Kontext der Haftverlegung umfassen,–gegen die Verantwortlichen der Rechtsverletzungen strafrechtlich zu ermitteln und sie zur Verantwortung zu ziehen,–den Beschwerdeführerinnen zügig eine angemessene Entschädigung zu gewähren, die im Einklang mit Art. 24 CPED steht, und–alle zur Verfügung stehenden Mittel einzuset-zen, um die Garantien der Nicht-Wiederholung (Art. 24 Abs. 5d CPED) umzusetzen. Dazu zählt die Einrichtung und regelmäßige Pflege eines der Konvention entsprechenden Registers bezüglich der Haftanstalten sowie Zugang zu Information für alle Berechtigten gemäß Art. 17 und 18 CPED.Des Weiteren soll der Vertragsstaat die Entscheidung des UN-Ausschusses öffentlich machen und seine Verbreitung, insbesondere bei Sicherheits-kräften und Gefängnispersonal, sicherstellen. In sechs Monaten soll der Vertragsstaat über die Umsetzung der Empfehlungen und die getroffenen Maßnahmen berichten.

Abschließende Würdigung 

Mit der vorliegenden Entscheidung hat der UN-Ausschuss über das Verschwindenlassen die grundsätzliche Frage nach zeitlich begrenztem Verschwindenlassen eindeutig beantwortet. Der UN-Ausschuss stellt fest, dass der Tatbestand des Verschwindenlassens nicht durch Zeiträume definiert ist, sondern aus den in der Konvention verankerten Staatenpflichten. Demzufolge kann unter bestimmten Bedingungen aus einem legalen Freiheitsentzug eine Situation von geheimer Haft und zeitweisem Verschwindenlassen entstehen. In der Folge dieser Überlegungen ist dann auch die im Übereinkommen festgelegte Definition von „Opfer“ auf die Familienangehörigen anzuwenden. Konsequent fordert der UN-Ausschuss die Umsetzung der Rechte der Opfer.

Fußnoten:

[1] Internationales Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (CPED), BGBl. III – Ausgegeben am 4. Juli 2012. http://www.un.org/depts/german/uebereinkom-men/ar61177-oebgbl.pdf (Stand 11.08.2016).

[2] Zu Individualbeschwerdeverfahren siehe Althoff, Nina (2012): Das Individualbeschwerdeverfahren zu den UN-Fachausschüs-sen. In: Zeitschrift für die Anwaltspraxis 1/2012, S.52-53.http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Anwaltsblatt/das_individualbeschwerde-verfahren_zu_den_un_fachausschuessen_anwaltsblatt_2012.pdf (Stand 11.08.2016).

[3] http://tbinternet.ohchr.org/_layouts/TreatyBodyExternal/Treaty.aspx?Treaty=ced&Lang=en (Stand 11.08.2016).

[4] Der UN-Ausschuss bestätigt seine Zuständigkeit gemäß Art. 31 CPED unter Berufung auf die Verletzung folgender Artikel der Konvention: Art. 1 (niemand darf dem Verschwindenlassen unterworfen werden), Art. 2 (Definition Verschwindenlassen), Art. 12 Abs. 1 und 2 (Behörden müssen Verdacht auf Ver-schwindenlassen überprüfen), Art. 17 (Schutz vor geheimer Haft), Art. 18 (Zugang zu Informationen für Verwandte), Art. 20 (Zugang zum Rechtsbehelf) und Art. 24 (Operdefinition und – rechte).

 

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