Alonso Salazar J.: El largo vuelo del cirirí. La ardua lucha de una madre por su hijo desaparecido
Buch Rezension
(Der lange Flug des Cirirí. Der mühselige Kampf einer Mutter um ihren verschwundenen Sohn)
Bogotá (Planeta) 2024
Der Cirirí ist ein kleiner Vogel mit gelber Brust. In Kolumbien ist er dafür bekannt, dass er sich furchtlos dem Habicht entgegenstellt, bis er ihn mit ständigem Umflattern und schrillen Schreien vertrieben hat. Das Wörterbuch gibt im Deutschen dafür den passenden Namen „Trauertyrann“ an. Fabiola Lalinde, die im März 2022 im Alter von 84 Jahren verstorben ist, hat diesen Vogel zu ihrem Wahrzeichen bei der Suche nach ihrem von den Militärs entführten, ermordeten und dann im Wald verscharrten Sohn Luis Fernando Lalinde gemacht. Das war am 3. Oktober 1984, und seitdem hat Fabiola ihr Leben der Suche nach ihrem Sohn und der Suche nach Gerechtigkeit für das Verbrechen gewidmet. Wer Fabiola kennen lernte, weiß, dass sie nie um eine spitze Bemerkung verlegen war, und so hat sie ihre Arbeit spöttisch „Operation Cirirí“ genannt, nachdem sie erfahren hatte, dass die Ermordung ihres Sohnes und die systematische Vertuschung dieser Tat bei den Militärs unter dem Namen „Operation Rabe“ (Operación Cuervo) lief.
Fabiola Lalinde gehörte zu den allerersten Müttern in Kolumbien, die sich der Suche nach ihren verschwundenen Kindern – meist Söhnen – machten. Sie erlebte in den achtunddreißig Jahren von Luis Fernandos Verschwinden bis zu ihrem Tod alle Tiefen und einige Höhen der Menschenrechtsarbeit in Kolumbien. Sie wurde diskriminiert, verfolgt und einmal sogar für drei Wochen ins Gefängnis gesteckt, nachdem die Militärs bei einer Hausdurchsuchung, während der sie in der Kirche war, ein Drogenpaket in ihre Wohnung geschmuggelt hatten und sie als Terroristin anklagten. Doch der Cirirí in ihr ließ nicht locker, und im Lauf der Jahre wurde Fabiola Lalinde zu einem Symbol des Kampfs der Mütter um Wahrheit und Gerechtigkeit in Kolumbien.
Und darüber hinaus. Denn Fabiola bewahrte alle ihre Eingaben, die nichtssagenden oder verlogenen Antworten und alle sonstigen Dokumente ihres hartnäckigen Kampfs auf, zuhaus in ihrem überquellenden kleinen Büro. Noch zu ihren Lebzeiten übergab sie ihr persönliches Archiv mit Zehntausenden Dokumenten, Tausenden Fotos, und zahlreichen Bildern und Videos dem Centro Nacional de Memoria Histórica (CNMH), dessen Direktor Gonzalo Sánchez schließlich dafür sorgte, dass Fabiolas Archiv von der UNESCO in das Register des Weltgedächtnisses aufgenommen wurde.
All das hat Fabiola Lalinde zu einer Figur des öffentlichen Lebens in Kolumbien gemacht. Die Medien haben nicht erst nach ihrem Tod über sie geschrieben, und 2018 hat das CNMH einen ausführlichen Dokumentarfilm mit dem Titel „Operación Cirirí. Persistente, insistente e incómoda” (https://www.youtube.com/watch?v=JikwHdM6gIk) über sie veröffentlicht. 1993 publizierte der bekannte Medelliner Journalist und Autor Alonso Salazar einen Sammelband mit dem Titel „Mujeres de Fuego“, in dem er die tapferen widerständigen Frauen portraitierte, die in Kolumbien für Menschenrechte kämpften. Ein langes Kapitel darin war der „Operación Cirirí“ gewidmet. 2007 gab die Stadtregierung von Medellín – Alonso Salazar war damals für kurze Zeit Bürgermeister – einen von Patricia Nieto koordinierten Sammelband heraus mit dem Titel „El cielo no me abandona“ – Der Himmel verlässt mich nicht. Darin erzählte Fabiola Lalinde erstmals selbst ihre Geschichte, die sie damals mit der Beerdigung der endlich gefundenen Skelettreste ihres Sohne 1996 enden ließ.
2024 legt Alonso Salazar nun die erste umfassende Biografie von Fabiola Lalinde vor. Er hat dafür seine eigenen langjährigen Beobachtungen, Begegnungen, Gespräche und Forschungen neu strukturiert, zahlreiche neue Interviews geführt, und nicht zuletzt das Archiv Lalinde, das an der Nationalen Universität in Medellín zugänglich ist, studiert. Entstanden ist so nicht nur eine ausführliche biografische Erzählung von Fabiola Lalindes Leben von Kindheit an, sondern am Beispiel der Aktion Cirirí eine Geschichte der Repression, aber auch der Menschenrechtsbewegung in Medellín und dem Bundesstaat Antioquia. Salazars wunderbar lesbar geschriebenes Buch bewegt sich überzeugend auf dem schwierigen Grat von persönlicher Nähe und Empathie – er kannte die Protagonistin ja über viele Jahre gut – und der nötigen Distanz, die ihm auch einen kritischen Blick auf Fabiola, ihre Familie und nicht zuletzt die politischen Weggefährten von Luis Fernando erlauben.
Es wäre ungemein wünschenswert, wenn „Der lange Flug des Cirirí“ auch in deutscher Übersetzung vorläge. Um mögliche Verleger zu motivieren, hier ein Auszug aus einem der vielen Zitate von Fabiola Lalinde, die Salazar im Buch im Original einflicht:
In der Operation Cirirí sind die Mütter von Soldaten willkommen, die Mütter von Guerilleros und die Mütter von unschuldigen Zivilisten. Alle haben Platz in der Operation Cirirí, weil sie absolut friedfertig ist. Ein Cirirí ist hartnäckig, ausdauernd und unbequem, aber noch nie hat er einen Habicht getötet. Jeder Habicht hat seinen Cirirí, und genauso hat jeder Täter eine Mutter, die bereit ist, bis zum Ende die Wahrheit, Wiedergutmachung und Gerechtigkeit einzufordern, und die nie vergisst.
Rainer Huhle
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