von Lene Guercke 09. Januar 2023

Seit den 1970er Jahren kämpfen Angehörige von Verschwundenen, zunächst besonders aus Lateinamerika, auf regionaler und internationaler Ebene für Gerechtigkeit und Wahrheit. Anfänglich ging es darum, Unterstützung bei der Suche nach Verschwundenen zu finden und auch das Verschwindenlassen sichtbar zu machen und als Menschenrechtsverletzung anzuerkennen. Denn als in den lateinamerikanischen Diktaturen der 1970er und 1980er Jahre systematisch Menschen „verschwinden gelassen“ wurden, existierte das „gewaltsame Verschwindenlassen“ weder als Begriff noch als eigenständige Menschenrechtsverletzung.

Der Aktivismus der Familien und Überlebenden von Verschwindenlassen, begleitet von Menschenrechtsorganisationen, war insofern erfolgreich, als dass auf regionaler und internationaler rechtlicher Ebene reagiert wurde: bei den Vereinten Nationen (UNO) wurde 1980 die „Arbeitsgruppe über gewaltsames und unfreiwilliges Verschwindenlassen“ gegründet und Anfang der 1990er Jahre wurde die Erklärung zum Schutz aller Personen vor gewaltsamem oder unfreiwilligem Verschwindenlassen angenommen. Im interamerikanischen Menschenrechtssystem, bestehend aus der Interamerikanischen Menschenrechtskommission und dem Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IAGMR), gab es in den 1980er Jahren erste Urteile in Fällen von gewaltsamem Verschwindenlassen.

Da das Verbrechen des gewaltsamen Verschwindenlassens zu dem Zeitpunkt juristisch noch nicht definiert war, waren diese Urteile äußerst wichtig um das gewaltsame Verschwindenlassen als Verletzung der Menschenrechte zu fassen und Staaten in die Verantwortung zu ziehen. Dies war möglich, weil das Verschwindenlassen ein komplexes und kollektives Verbrechen ist, das mehrere Menschenrechte verletzt, wie z.B. das Recht auf Leben, das Recht nicht gefoltert zu werden, sowie das Recht auf ein faires Verfahren und Zugang zur Justiz, die bereits in allgemeinen Menschenrechtsabkommen geschützt waren. So urteilte zum Beispiel 1988 der IAGMR im Fall Blake v Guatemala, dass Angehörige von Verschwundenen auch Opfer dieser Menschenrechtsverletzung sind und dass der guatemaltekische Staat für das emotionale Leiden der Angehörigen von Nicholas Blake verantwortlich war.

Seit den ersten Urteilen des IAGMR zum Thema gewaltsames Verschwindenlassen im Jahr 1988, haben sich Menschenrechtsgremien aus verschiedenen Regionen – die afrikanischen, europäischen und interamerikanischen Menschenrechtssysteme, und verschiedene Ausschüsse der Vereinten Nationen – oft mit dem Thema befasst, sodass es mittlerweile eine große Anzahl an Rechtsprechung auf verschiedenen Sprachen gibt. Darüber hinaus gibt es auf regionaler und internationaler Ebene spezielle Instrumente, die das gewaltsame Verschwindenlassen verbieten und die Pflichten der Staaten um Personen vor dem Verschwindenlassen zu schützen definieren. All diese Instrumente und Rechtsprechung sind wichtig, um die verschiedenen Bestandteile des Verschwindenlassens und die Rechte und Ansprüche der Opfer zu verstehen.

Zum Tag der Opfer des Verschwindenlassens, dem 30. August 2022, hat das European Human Rights Advocacy Centre (EHRAC) von der Uni Middlesex in Großbritannien eine mehrsprachige Datenbank veröffentlicht, die eine Sammlung des rechtlichen Rahmens, sowie wegweisender internationaler und regionaler Rechtsprechung über gewaltsames Verschwindenlassen umfassen soll Um wegweisende Rechtsprechung für die Datenbank zu identifizieren, die wichtige juristische Fragen zum Verschwindenlassen klären, hat das Forscher*innen-Team mit Expert*innen aus verschiedenen Regionen gesprochen. Bis jetzt enthält die Datenbank 44 Urteile und Stellungnahmen und sie soll in den nächsten Monaten noch erweitert werden.

Die Datenbank ist in die Kategorien Rechtsprechung und Gesetze und Standards aufgeteilt und es ist möglich mit Hilfe von diversen Filtern (Land, Jahr, Typ des Dokuments, Instanz, Thema, und Schlagwörter) eine gezielte Suche von Urteilen, Stellungnahmen, und Prinzipien durchzuführen. Das gesamte Material, inklusive der Urteile, ist in die vier Sprachen der Webseite (Englisch, Französisch, Russisch und Spanisch) übersetzt worden. Das Team, das hinter der Datenbank steht, plant, die Rechtsprechung um weitere internationale und auch nationale Urteile zu ergänzen.

Da es bisher keine Sammlung von Standards und Rechtsprechung dieser Art zu gewaltsamem Verschwindenlassen gab, ist die Datenbank eine wichtige Bereicherung für alle, die über gewaltsames Verschwindenlassen arbeiten oder sich für das Thema interessieren. Besonders hilfreich wird diese Sammlung für Jurist*innen und Forscher*innen sein, die sich mit dem gewaltsamen Verschwindenlassen beschäftigen, denn es vereinfacht die (mehrsprachige) Suche nach Urteilen, in denen wichtige Aspekte des Verschwindenlassens behandelt wurden.

EHRAC ist ein unabhängiges Menschenrechtszentrum, das mit lokalen Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeitet, um Menschenrechtsverletzungen in Russland, Georgien, Aserbaidschan, Armenien und der Ukraine mit Hilfe von internationalen juristischen Mechanismen anzugehen.

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