Barbara Lochbihler, Mitglied im UN Ausschuss gegen das Verschwindenlassen 13. Januar 2021
Unter erschwerten Bedingungen befasste sich der UN Ausschuss gegen das Verschwindenlassen in den vergangenen Monaten mit den vielen unaufgeklärten Fällen von gewaltsam Verschwundenen im Irak. Zunächst führte die Covid-19-Pandemie dazu, dass die Frühjahrssitzung des Ausschusses, auf deren Tagesordnung der Irak stand, nicht bzw. nur online und sehr reduziert stattfinden konnte. An Staatendialoge war kaum zu denken, und nur die sehr Besorgnis erregende Situation im Irak veranlasste uns, schließlich für die Sitzung im Oktober den Dialog in virtuellem Format zu planen. Eine absolute Ausnahme, kein anderer der UN Vertragsausschüsse führte in diesem Pandemiejahr einen Staatendialog durch. Zunächst machte uns Covid-19 erneut einen Strich durch die Rechnung: Acht Mitglieder der irakischen Delegation erkrankten, die übrigen mussten in Quarantäne. So musste der Dialog erneut verschoben werden und konnte erst am 5. und 7. Oktober stattfinden. Die Vor- und Nachbereitung dieses digitalen Formats erforderte vor allem für meinen Kollegen Mohammad Ayat und mich als Berichterstatter sowie für das Sekretariat einen beachtlichen Mehraufwand und viel Flexibilität. Die Durchführung war schließlich mit großem technischem Aufwand verbunden. Die irakische Delegation unter Leitung des Justizministers war aus Bagdad zugeschaltet, die Ausschussmitglieder aus ihren Heimatorten von Tokio bis Peru, und das Sekretariat aus dem gespenstisch leeren Sitzungssaal in Genf.
Noch weitaus herausfordernder ist die Situation im Irak selbst. Das Land hat die höchste Zahl an gewaltsam Verschwundenen weltweit, die Schätzungen liegen zwischen 250.000 und einer Million verschwundenen Personen. Seit Jahrzehnten werden Menschen dort Opfer dieses Verbrechens – unter dem Regime von Saddam Hussein, während der Herrschaft des „Islamischen Staates im Irak und der Levante“ (ISIL) und den folgenden Kämpfen zu dessen Vertreibung, und in jüngster Zeit viele verschwundene Demonstrant*innen während der öffentlichen Proteste gegen die irakische Regierung seit Oktober 2019. Insbesondere diese Fälle führten dazu, dass der Irak inzwischen bei den Eilaktionen des Ausschuss den unrühmlichen Spitzenplatz einnimmt.
Die unerwartete Verschiebung des Dialogs nutze der Ausschuss für einen ausführlichen Austausch mit Opfer- und Menschenrechtsorganisationen, die unter schwierigen Bedingungen vor Ort arbeiten sowie mit Vertreter*innen der UN im Irak, die kurz zuvor einen ausführlichen Bericht zur Situation im Irak veröffentlicht hatten. Hierin geht es vor allem um die über 1.000 Menschen, die 2015-2017 während der Kämpfe zur Vertreibung von ISIL aus der Provinz Anbar mutmaßlich von Sicherheitskräften der Regierung und regierungsnahen Milizen, insbesondere den Popular Mobilisation Forces (PMF), verschwunden wurden. Das Verschwinden von tausenden Menschen, die tatsächlich oder vorgeblich verdächtigt werden ISIL zu unterstützen, ist ein großes Problem im ganzen Land. Die Integration der PMF in den irakischen Sicherheitsapparat macht die Aufklärung der Fälle trotz verschiedener Untersuchungskommissionen nicht einfacher. Straflosigkeit ist weit verbreitet. Ausnahmslos alle Gesprächspartner*innen beklagten den fehlenden politischen Willen der politisch und militärisch Verantwortlichen, die Forderungen aus der Konvention gegen das Verschwindenlassen auch umzusetzen.
Das wird besonders deutlich an dem längst überfälligen Gesetz, mit dem das gewaltsame Verschwindenlassen im Irak endlich strafbar werden soll, so wie es die 2010 ratifizierte Konvention vorsieht. Der aktuell vorliegende Gesetzesentwurf war ein zentrales Thema des Dialogs mit der irakischen Regierungsdelegation im November. Der Justizminister betonte, dass von zahlreichen anstehenden Gesetzesvorhaben dieser Entwurf mit Priorität ins Parlament gebracht werden solle. Eine Mehrheit dafür ist aber noch nicht sicher und wichtigen Vorgaben aus der Konvention etwa im Hinblick auf die Opferrechte wird der Entwurf bisher nicht gerecht. Angemahnt haben wir, dass die Strafverfolgung aller Verantwortlichen, einschließlich militärisch oder administrativ Vorgesetzter, möglich sein muss. Es darf auch nicht unterschieden werden zwischen den Opfern des Baath-Regimes, den von ISIL oder während dessen Bekämpfung Verschwundenen, und den Menschen, die seit den im Oktober 2019 begonnenen Demonstrationen gegen die Regierung gewaltsam verschwunden wurden.
Ein weiteres Thema waren die realen Bedingungen für die Suche nach Verschwundenen und die Ermittlung der Verantwortlichen. Viele Familienangehörige haben immer noch Angst, überhaupt eine Anfrage zu stellen, und scheitern nicht selten an den komplizierten und intransparenten Zuständigkeiten. Angehörige, die mitunter auf vager Basis mit ISIL in Verbindung gebracht werden, sind von Verfahren zur Klärung rechtlicher und sozialer Fragen ausgeschlossen. Die Delegation kündigte Verbesserungen an, die der Ausschuss beständig einfordern wird. Beharrlichkeit ist auch gefordert in der Frage der Existenz von Geheimgefängnissen, in denen Menschen festgehalten werden und niemand Auskunft erhält, wer dort war und ist. Der Ausschuss hat glaubwürdige Hinweise auf über 400 solch geheimer Haftorte erhalten, doch die Regierung bestreitet deren Existenz.
Unbestritten hingegen ist die riesige Herausforderung, das Schicksal tausender Opfer von erzwungenem Verschwindenlassen im Irak aufzuklären. Vermutlich über eine Million toter Personen in gesicherten und ungesicherten Massengräbern müssen unbedingt erfasst und identifiziert werden. Das bedarf großer finanzieller und technischer Unterstützung.
Die abschließende Bewertung des Ausschusses ist ambivalent. Auch wenn wir die Kooperationsbereitschaft in Vorbereitung und während des Dialoges gelobt haben, sind die Schwierigkeiten – nicht zuletzt angesichts der politischen Realitäten im Land – immens und der Widerstand bei vielen Akteuren beachtlich. Das zeigt die Auseinandersetzung um die Geheimgefängnisse ebenso wie die noch völlig unzureichenden Bestimmungen zur Vorgesetztenverantwortung im nationalen Gesetz zum Verschwindenlassen und die zahlreichen Repressionen gegen die Angehörigen von Verschwundenen. Ein Gradmesser für die tatsächliche Kooperationsbereitschaft werden weiterhin die Eilaktionen des Ausschusses sein – vor derzeit 492 Eilaktionen gibt es in 275 Fällen keine Reaktion der irakischen Behörden, trotz zahlreicher Nachfragen. In einem Jahr wird der Irak dem Ausschuss erneut berichten müssen, wie die Empfehlungen umgesetzt und die Verpflichtungen der Konvention erfüllt werden.