Am 7. Juli 2020 bestätigte die Generalstaatsanwaltschaft den Fund der sterblichen Überreste von Christian Rodríguez, einem der 43 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa. Seine Identifizierung entlarvt die „historische Wahrheit“, mit der die Vorgänger-Regierung den Fall zum Abschluss bringen wollte, endgültig als Lüge. Ein Plädoyer für Aufklärung und ein Ende der Straflosigkeit.
Mario Patrón [1], 16. Juli 2020
Christian Alfonso Rodríguez Telumbre war 19 Jahre alt, als er zusammen mit seinen 42 Kommilitonen der Landlehrerschule Isidro Burgos von Ayotzinapa [2] verschwunden wurde. Am vergangenen 7. Juli bestätigte die Generalstaatsanwaltschaft den Fund seiner sterblichen Überreste.
Es war sein Wunsch gewesen Tiermedizin zu studieren, aber seine komplizierte wirtschaftliche Lage brachte ihn dazu, an der Pädagogischen Hochschule für Grundschullehrer in den ländlichen Regionen zu studieren. Er war ein passionierter Volkstänzer. Seine Eltern, Clemente Rodríguez und Luz María Telumbre, führten gemeinsam mit den anderen Vätern und Müttern der Studierenden eine der in der Geschichte des Landes beispielhaftesten Bewegungen auf der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit an.
Die Identifizierung bedeutet einen weiteren Riss in der unhaltbaren „historischen Wahrheit“, mit der die Vorgänger-Regierung den Fall zum Abschluss bringen wollte. Enrique Peña Nieto hätte die Gelegenheit gehabt, dass der Fall Ayotzinapa in Bezug auf Gerechtigkeit für Mexiko ein point of no return gewesen wäre. Aber dafür hätte es des politischen Willens für Nachforschungen bedurft, um dann das Gebilde des tief in die Korruption verstrickenden Mexikos zu enthüllen, in dem die Grenzen zwischen dem Organisierten Verbrechen und den öffentlichen Institutionen zugunsten einer höchst kriminellen Dynamik fließend waren.
In dem gewaltsamen Verschwindenlassen der 43 Jugendlichen findet die Tragödie von Ayotzinapa tatsächlich ihren stärksten Ausdruck; sie ist aber nur in Funktion zu den korrupten Strukturen erklärlich, die in jener Nacht des 26. September 2014 dazu führten, dass die staatlichen Einrichtungen den Interessen des Organisierten Verbrechens in die Hände spielten, und nicht dem Wohl der Bürgerinnen und Bürger dienten.
Insofern könnte die einzige Stärke, die aus dieser Tragödie gezogen werden kann, darin liegen, die verfaulte Institutionalität Mexikos offenzulegen, die sich am Fall Ayotzinapa offenbart. Wir kennen die Geschichte: Man konstruierte die „historische Wahrheit“, die ohne jeglichen wissenschaftlichen Halt und Beweis allmählich Schritt für Schritt in sich zusammenfällt. Es wurde ein Gebäude der doppelten Straflosigkeit geschaffen: das der örtlichen Behörden, die an dem Verschwindenlassen beteiligt waren, und das der staatlichen Stellen, die die infame Montage der „historischen Wahrheit“ aufbauten.
Es lohnt sich, einige der Offenlegungen und Momente in Erinnerung zu rufen, die im Laufe von fast sechs Jahren zur Demontage der vermeintlichen „Wahrheit“ beigetragen haben, die den Vätern und Müttern von Ayotzinapa als einzige Erklärung für die Vorfälle vom 26. und 27. September 2014 in der Stadt Iguala (Bundesstaat Guerrero) gegeben worden war.
Erstens: Die Interdisziplinäre Gruppe unabhängiger Experten (span. GIEI) [3] kam in ihren beiden Berichten I und II auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse zu dem Schluss, dass es unmöglich hätte sein können, auf der Müllhalde von Cocula ein Feuer solchen Ausmaßes zu entfachen, um damit 43 Leichname in Asche zu verwandeln. Darüber hinaus offenbarte sie die Mängel der Nachforschungen der Generalstaatsanwaltschaft wie z.B. die Benutzung mehrerer Mobiltelefone der Studenten Stunden nach ihrem vermeintlichen Tod.
Zweitens: Das argentinische Team für forensische Anthropologie (EAAF) legte ein fachübergreifendes Gutachten über die Müllhalde von Cocula vor. Es kam zu dem Schluss, dass der physische Beweis, für den durch die Verbrennung von 43 Körpern erwarteten Schaden in dem Gebiet nicht erbracht war. Auf derselben Argumentationslinie verdeutlichte das Team, dass die Erklärungen von Beschuldigten, die die Version von der Müllhalde offensichtlich „gebeichtet“ hatten, nicht stichhaltig gewesen waren.
Drittens: Die bisherige Aufsichtsstelle in der Generalstaatsanwaltschaft – heute: Sonderstaatsanwaltschaft für Innere Angelegenheiten – veranstaltete ein Entscheidungsprojekt, in welchem sie auf der Grundlage der GIEI-Enthüllungen zu dem Schluss kam, dass verschiedene Funktionäre – unter ihnen der frühere Leiter der Agentur für kriminelle Ermittlungen – sich schwerwiegender Verfehlungen schuldig gemacht hatte, die von krimineller Tragweite waren, wie z.B. willkürliche Festnahmen, irreguläre Verbringung an vermeintliche Tatorte und sogar Folter.
Viertens: Das Büro des UN-Hochkommissariat für Menschenrechte kam in seinem Bericht Doble Injusticia (Doppeltes Unrecht) zu dem Schluss, dass zumindest 34 Personen, die angeblich mit den Vorfällen von Iguala zu tun gehabt hatten, von verschiedenen staatlichen Stellen gefoltert worden waren. Das Kernargument der UNO bestand darin, dass Folter die Wahrheit leugnet, denn die „geständigen“ Personen erklären das, war die Folterer hören wollen, und nicht die wahren Tatumstände.
Fünftens: Mit dem Urteil des ersten Kollegialgerichts mit Sitz in Tamaulipas wurde im Mai 2018 die Schaffung einer Wahrheits- und Gerechtigkeits-Kommission angeordnet, nachdem festgestellt worden war, dass keine ernsthaften, unparteiischen und wirksamen Ermittlungen seitens der Generalstaatsanwaltschaft stattgefunden hatten, die der Wahrheit des Geschehens gedient hätten. Mehr noch: das Gericht wies auf die systematische Anwendung von Folter hin, um zu der offiziellen Lesart zu kommen. Deshalb haben die Justizbehörden bis zum 30. Juni des Jahres 77 Personen freigelassen, die angeblich in die „historische Wahrheit“ verwickelt waren, unter ihnen sechs Jugendliche, die theoretisch die Einäscherung der Studenten gestanden haben sollten.
Zu der ganzen Kette von Zusammenstößen mit der besagten „historischen Wahrheit“ kommt nun auch noch die Identifizierung der sterblichen Überreste von Christian Rodríguez, und zwar an einem anderen Fundort als der Müllhalde von Cocula; ferner das Bekanntwerden eines Videos, auf dem Tomás Zerón, ehemaliger Leiter der Agentur für kriminelle Ermittlungen, einen der wegen Verschwindenlassens Beschuldigten foltert.
Seit Tag eins seiner Regierung und im Zusammenhang mit der Schaffung der Kommission für Wahrheit und Gerechtigkeit im Fall Ayotzinapa haben sowohl Präsident López Obrador als auch der Staatssekretär im Innenministerium, Alejandro Encinas, der der Kommission vorsteht, wiederholt beteuert: Die einzige Wahrheit besteht darin, dass es in dem Fall keine Wahrheit gibt. In gleicher Weise äußerten sich vor einigen Tagen Bundesanwalt Alejandro Gertz und der für den Fall zuständige Staatsanwalt Omar Gómez, dass die „historische Wahrheit“ in sich zusammengefallen sei und die Pakte der Straflosigkeit zerschlagen wurden.
Die wissenschaftlich bestätigten Funde über Christian und die Beantragung neuer Haftbefehle stellen einen tatsächlichen Schlusspunkt dar, dass es kein Zurück mehr gibt aufzuklären, wie es um den Verbleib der Studenten steht. Aber es geht auch darum, alle in das große Korruptionsgebilde Verstrickten zur Rechenschaft zu ziehen, das es möglich werden ließ, die Tragödie der 43 geschehen zu lassen und im Anschluss daran eine vermeintliche Wahrheitsmontage aufzubauen.
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[1] Mario Patrón Sánchez, geb. 1977, mexikanischer Menschenrechtler; 2004-2008 Leiter der Rechtsabteilung im MR-Zentrum Tlachinollan in Tlapa/Guerrero; 2014-2019 Direktor des MR-Zentrums Miguel Agustín Pro Juárez (Prodh) in Mexiko-Stadt; seit April 2019 Rektor der Universidad Iberoamericana in Puebla. – Sein Meinungsbeitrag erschien am 16.07.2020 unter dem Titel „Ayotzinapa: el corazón de la corrupción“ in La Jornada (Mexiko-Stadt). Übersetzung: Wolfgang Grenz.
[2] Ayotzinapa ist ein mexikanisches Dorf im Ballungsraum der Stadt Tixtla de Guerrero im gleichnamigen Municipio im Bundesstaat Guerrero (Mexiko). In Ayotzinapa befindet sich eine Ausbildungsstätte für Grundschullehrer, die 1926 gegründete Escuela Normal Rural Raúl Isidro Burgos, die wegen der Entführung von 43 Lehramtsstudenten Ende September 2014 internationale Bekanntheit erlangte.
[3] Die GIEI (Grupo Interdisciplinario de Expertos Independientes) wurde aufgrund einer Vereinbarung zwischen den Familienangehörigen der verschwundenen Studenten und der Interamerikanischen Menschenrechtskommission mit der mexikanischen Regierung ins Leben gerufen und nahm im Januar 2015 ihre Arbeit auf. Ihr gehörten fünf internationale Expert*innen an: Alejandro Valencia, Menschenrechtler (Kolumbien); Ángela María Buitrago, Juristin (Kolumbien); Claudia Paz y Paz, Richterin und Strafrechtlerin (Guatemala); Francisco Cox, Jurist (Chile) und Carlos Martín Beristain, Arzt und Psychologe (Spanien).