Die Dringlichkeitsaktionen des Ausschusses über Verschwindenlassen sind rechtsverbindlich
von Gabriella Citroni, Völkerrechtsexpertin und Professorin für internationales Menschenrecht an der Universität Milano-Bicocca
(Übersetzung aus dem Englischen: Rainer Huhle)
Die englische Fassung dieses Artikels erschien auf dem Blog „Opinio Juris“
Am 16. Juni 2021 sprach der Oberste Gerichtshof von Mexiko ein Urteil, das von zivilgesellschaftlichen Gruppen, sowie von internationalen wie auch mexikanischen Institutionen als historischer Meilenstein bezeichnet wurde (siehe hier, hier und hier). Das Urteil besagt, dass staatliche Instanzen verpflichtet sind, die Dringlichkeitsaktionen (UA) des UN-Ausschusses über das Verschwindenlassen (CED) umzusetzen.
Der Gerichtshof gab zunächst eine Presseerklärung (in Spanisch) heraus, der vollständige Urteilstext (in Spanisch) wurde am 12. Juli veröffentlicht. Das Urteil war lange erwartet worden (Seiller & Gutiérrez), und angesichts der zu erwartenden Brisanz seines Tenors in Mexiko, und auch international, hatten eine Reihe von NRO, akademische Institutionen, die Nationale Menschenrechtskommission und andere einheimische Institutionen Stellungnahmen in Form von amici curiae eingereicht.
Um die Bedeutung dieses Urteils und seine Auswirkungen ganz zu verstehen, muss zunächst sein Hintergrund beleuchtet werden, sowohl was die Dringlichkeitsaktionen angeht als auch bezüglich der genauen Fragen, die der Oberste Gerichtshof zu klären hatte.
Debatten darüber, welchen rechtlichen Stellenwert die “Ansichten” bzw. Entscheidungen der UN-Vertragsorgane haben, sind nicht neu (s.u.a. Van Alebeek & Nollkaemper und Casla). In der Tat haben auch nationale Gerichte sich mit der Frage auseinandergesetzt (u.a. der Oberste Gerichtshof Spaniens. Doch die Klage vor dem Obersten Gerichtshof Mexikos war insofern anders gelagert, als sie sich nicht auf Einzelfallbeschwerden über Vertragsverletzungen, sondern auf Anträge zur Einleitung von Dringlichkeitsaktionen bezog.
Die Dringlichkeitsaktionen sind eine im Vertragssystem der UNO einzigartige Aktionsform, die dem CED im Art. 30 des Internationalen Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (ICPPED) überantwortet ist. Anders als bei den Individualbeschwerden und den zwischenstaatlichen Beschwerden (Art. 31 und 32 ICPPED) ist bei den UA keine besondere Erklärung der Staaten für die Anerkennung dieser Kompetenz des Ausschusses nötig, sie ist bereits in der Ratifizierung bzw. dem Beitritt zu dem Übereinkommen enthalten.
Dringlichkeitsaktionen haben nicht zum Ziel, staatliche Verantwortlichkeiten für Verletzungen der Konvention festzustellen, sie haben eine eher „humanitäre“ Funktion, indem sie den betreffenden Staat auffordern, die verschwundene Person zu suchen und zu finden ((Huhle, S. 237; und Prophette-Pallasco & Batalla). Wenn das Schicksal und der Verbleib der verschwundenen Person zweifelsfrei ermittelt ist, endet die UA, nicht aber die darüber hinausgehenden Staatenpflichten zur Untersuchung des Falles, der Identifizierung, strafrechtlichen Verfolgung und Bestrafung der Täter, sowie der Entschädigung und anderer Wiedergutmachungsmaßnahmen für die Opfer. Gemäß Art. 30, Par. 3 kann das CED den Staat auch auffordern, alle nötigen Maßnahmen, auch solche vorläufiger Natur, zu treffen, um die verschwundene Person aufzufinden und sie zu schützen. Der Staat hat den CED über die getroffenen Maßnahmen innerhalb einer gesetzten Frist zu informieren. Der Wortlaut dieser Bestimmungen in Art. 30 deutet bereits an, dass diese Pflichten aus den UA als obligatorisch zu verstehen sind.
Nach dem jüngsten Bericht des Ausschusses über die Dringlichkeitsaktionen hat er seit dem Beginn bis April 2021 insgesamt 1.012 Anträge auf Dringlichkeitsaktionen erhalten, von denen sich 424 auf Mexiko bezogen, das damit nach Irak mit 492 die meisten dieser UA aufweist. Von diesen 424 Fällen konnten 46 beendet werden, weil die betroffenen Personen tatsächlich gefunden wurden, während die restlichen Fälle noch offen oder in einigen Fällen suspendiert sind. Obwohl Mexiko im Lauf der Zeit besser auf die UA reagiert hat, sind die Behörden nicht immer geneigt, sie prompt umzusetzen, zumal wenn sie oft sehr detaillierte Strategien der Suche und Ermittlung angeben. Gelegentlich rechtfertigen die Behörden ihre Untätigkeit auch damit, dass die UA ja bloße Empfehlungen ohne jeden bindenden Charakter hätten.
Doch die Verschleppung (oder das komplette Unterlassen) bei der wirksamen und angemessenen Umsetzung der Maßnahmen kann eine Frage des Lebens für die verschwundene Person sein und verlängert unnötig das Leid der Familien, das die Ungewissheit über das Schicksal und den Verbleib ihrer Angehörigen verursacht. Umso mehr, wenn das in einem Land passiert, in dem seit 2006 mehr als 86.000 Verschwundene offiziell registriert sind, trotz einer robusten Gesetzeslage und der Errichtung mehrerer staatlicher Institutionen für die Suche nach den Verschwundenen und die Ermittlung der entsprechenden Verbrechen. Die Ergebnisse des Bemühens, die Täter zu identifizieren, vor Gericht zu bringen und zu verurteilen, sind äußerst bescheiden, die Straflosigkeit dieser Fälle liegt bei nahezu 98%.
Die Klage, die zum Obersten Gerichtshof gelangte, bezieht sich auf einen Fall in diesem Kontext. Im Dezember 2013 wurde Herr Víctor Álvarez Damián zusammen mit sechs anderen jungen Männern im Rahmen einer Operation der Sicherheitskräfte mit dem Namen Veracruz Seguro durch die Polizei verschwunden. Der Fall wurde beim CED als UA gemäß Art. 30 des ICPPED vorgebracht und vom Ausschuss angenommen (UA 281/2016 vom 11. Februar 2016). doch die Staatsanwaltschaft von Veracruz weigerte sich, die Maßnahmen im Rahmen der UA umzusetzen, mit dem Argument, sie seien nicht bindend und dass sie daher keinerlei Verpflichtung zu ihrer Beachtung hätte. Am 19. Oktober 2017, reichte ID(h)EAS, die NGO, die Frau Perla Damián Marcial (die Mutter von Víctor Álvarez Damián), vertritt, einen Amparo, eine Rechtsbeschwerde gegen die Staatsanwaltschaft Veracruz ein, in der sie diese Auffassung über die Rechtsnatur der UA zurückwies. Diese Beschwerde wurde jedoch 2018 vom 3. Bezirksgericht Veracruz abgelehnt, und das Gericht bekräftigte gleichzeitig die Auffassung, dass die UA nicht bindend seien. Gegen diese Entscheidung erhoben die Kläger daher 2019 erneut Beschwerde, diesmal vor dem Obersten Gerichtshof, mit der Bitte, den Fall an sich zu ziehen und eine Grundsatzentscheidung über die Verbindlichkeit der UA zu fällen. Diese Beschwerde verfolgte offensichtlich strategische Ziele, mit Blick auf Hunderte von vergleichbaren Fällen. Am 7. August 2019 erklärte sich die Erste Kammer des Obersten Gerichtshof für den Fall zuständig (recurso de revisión No. 289/2019).
In seinem Urteil (amparo en revisión No. 1077/2019) vom 16. Juni 2021 befand die Erste Kammer des Obersten Gerichtshofs einstimmig, dass nationale Behörden – gleich welchen Ranges – verpflichtet sind, die Ersuchen um Dringlichkeitsaktionen des UN-Ausschusses umzusetzen, mit allen darin enthaltenen Maßnahmen (Par. 112-133 des Urteils). Außerdem urteilte das Gericht, dass die Umsetzung der Maßnahmen gerichtlicher und verfassungsgerichtlicher Kontrolle unterliegt (Par. 144-145).
Bezüglich des vorgelegten Falls entschied der Oberste Gerichtshof, dass der Amparo berechtigt war und dass der Generalstaatsanwalt von Veracruz und der Sonderstaatsanwalt für Fälle von Verschwundenen die vom CED angegebenen Maßnahmen umzusetzen haben, um Mexikos völkerrechtliche Verpflichtungen zur Ermittlung des Falls und zu einer effektiven Suche nach Herrn Víctor Álvarez Damián nachzukommen. Dabei habe die Staatsanwaltschaft sicherzustellen, dass die Verwandten – insbesondere die Mutter – des Verschwundenen eng in die Untersuchung und die Suche einbezogen werden (Par. 136-146).
Der Oberste Gerichtshof stellte also fest, dass die Verpflichtung zur Suche nach einer verschwundenen Person und die entsprechenden Ergebnisse der Ermittlung zum Kernbereich des unumstößlichen Rechts jeder Person gehören, nicht Opfer von Verschwindenlassen zu werden (Art. 1 ICPPED) und füllte damit zugleich die Verpflichtungen der Konvention, das Verschwindenlassen zu verhüten und zu untersuchen mit Substanz, ebenso wie die Pflicht, Wiedergutmachung zu üben und die Rechte auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung zu wahren (Par. 107 des Urteils).
Bei seiner Entscheidung über die Verpflichtung der mexikanischen Behörden zur Umsetzung der Dringlichkeitsaktionen und der in ihnen enthaltenen Maßnahmen berücksichtigte der Gerichtshof, dass der Ausschuss das Organ ist, das die legitime Kompetenz für die Interpretation des ICPPED innehat, einschließlich der Forderung an die Staaten, alle nötigen Schritte für die Suche und das Auffinden einer verschwundenen Person zu unternehmen. Die verbindliche Natur der der UA des Ausschusses zu leugnen, liefe, in den Worten des Gerichts, darauf hinaus, das ICPPED jedes effet utile (Par. 119 des Urteils) zu berauben, dem Übereinkommen also seinen Inhalt und seinen Zweck zu nehmen. Für das Gericht ist die verpflichtende Natur der Dringlichkeitsaktionen des CED daher „unbestreitbar“ (Par. 145).
Über die Feststellungen des Obersten Gerichtshofs bezüglich der Rechtsverbindlichkeit der UA hinaus – die allein schon bahnbrechend sind – beleuchtet das Urteil einige weitere Aspekte, die bisher wenig beachtet wurden und setzt dabei wichtige Maßstäbe. Das gilt für die Verpflichtung aller Mitgliedstaaten „alle geeigneten Maßnahmen im Hinblick auf die Suche nach verschwundenen Personen, die Ermittlung ihres Aufenthaltsorts und ihre Freilassung sowie im Fall des Todes im Hinblick auf die Ermittlung, Achtung und Überführung ihrer sterblichen Überreste“ zu gewährleisten, wie Art. 24, Par. 3 des ICPPED es verlangt (s. auch die 2019 vom CED verabschiedeten Leitprinzipien für die Suche nach verschwundenen Personen). Der Oberste Gerichtshof schließt daraus dass es zwangsläufig ein „Recht auf Suche“ (derecho a la búsqueda) geben muss, als Bedingung, um die Rechte auf Wahrheit und Gerechtigkeit für die Familien real werden zu lassen (Par. 83 – 111 des Urteils“. Für den Gerichtshof bedeutet das, dass alle verschwundenen Personen und die ihnen Nahestehenden einen Anspruch darauf haben, dass alle staatlichen Institutionen, im Rahmen ihrer Aufgabenstellung, sämtliche Möglichkeiten und Ressourcen einsetzen müssen, um ohne Verzug die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um das Schicksal und den Verbleib der verschwundenen Person aufzuklären (Par. 108) Der Wortlaut, den das Gericht hier wählt, beinhaltet also ein – durchaus justiziables – individuelles Recht (besagtes Recht auf Suche) und zugleich detailliert er die korrespondierenden Staatenpflichten. Diese bestehen eben darin, dass der Staat auf effektive Weise dafür sorgen muss, dass alle zuständigen Behörden diesen positiven Pflichten nachkommen (Par. 72 und 103), wobei sie untereinander zu kooperieren haben und zugleich die Teilhabe der Opfer dabei garantieren müssen.
Artikel 1 der mexikanischen Verfassung, in der Fassung von 2011, bestimmt, dass jeder Mensch die in der Verfassung enthaltenen Grundrechte genießt, ebenso wie die in den Verträgen, die Mexiko ratifiziert hat. Das gilt insbesondere für die Menschenrechtsnormen, die in Übereinstimmung mit der Verfassung und den internationalen Verträgen auszulegen sind, wobei immer das Prinzip der höchstmöglichen Garantien für den Schutz der Opfer anzuwenden ist. Die Verfassung muss dabei immer im Licht von Art. 26 der Wiener Konvention über das Recht der Verträge (pacta sunt servanda) gelesen werden, wonach Verträge für die Mitgliedstaaten verbindlich sind und von diesen nach Treu und Glauben erfüllt werden müssen. Ferner bestimmt auch Art. 26 ICPPED, dass die Vertragsstaaten verpflichtet sind, „mit dem Ausschuss zusammenzuarbeiten und seine Mitglieder bei der Erfüllung ihres Mandats zu unterstützen.“ Das schließt die Durchführung der Dringlichkeitsaktionen ein.
Die Infragestellung der verbindlichen Natur der Entscheidungen von UN-Vertragsorganen (das bezieht auch die Einleitung von Dringlichkeitsaktionen) ist kaum vereinbar mit den bestehenden Regeln und führt zu einer paradoxen Lage. Danach müsste ein Staat zwar den Vertrag erfüllen, aber wenn es zu konkreten Maßnahmen und Handlungen kommt, die von dem zuständigen Vertragsorgan (das ja Teil des Vertrags ist und von dem Staat akzeptiert wurde mit der Pflicht zur gutwilligen Zusammenarbeit) klar definiert werden, dann wäre dies ins Belieben der Staaten gestellt. Hier bezieht der Gerichtshof in klaren Worten Stellung und verlangt die Übereinstimmung der nationalen und internationalen Normen, ganz besonders wenn es sich so kritische Fragen wie den fundamentalen Schutz der Menschenrechte handelt (Par. 117-123 und 132).
Wie erwähnt, ist es nicht das erste Mal, dass sich nationale Gerichte, einschließlich Oberster Gerichte und Verfassungsgerichte mit der Frage der Rechtsverbindlichkeit von Entscheidungen der Vertragsorgane der Vereinten Nationen auseinandergesetzt haben. Mit einigen Ausnahmen lässt sich dabei ein wachsender Trend in Richtung der Anerkennung der Verbindlichkeit dieser Entscheidungen beobachten. Doch das Urteil des Obersten Gerichtshofs von Mexiko nimmt insofern eine Pionierposition ein, als es hier die Dringlichkeitsaktionen des CED einbezieht und damit einen wichtigen Schritt vorangeht, der Tausende von Angehörigen verschwundener Personen neue Hoffnung gibt und zugleich eine wichtige Lücke bei der Umsetzung von internationalen Menschenrechtsverträgen schließt. Es wird sich zeigen, wie weit andere nationale Gerichte diesen Weg mitgehen. Die soliden Argumente, die der Oberste Gerichtshof Mexikos in seinem einstimmigen Urteil anführt, können sicher dazu ihren Beitrag leisten.