von Lene Guercke, 15. Februar 2022

Das (gewaltsame) Verschwindenlassen ist in vielen Ländern ein andauerndes Problem, nicht nur weil die Angehörigen oft über Jahrzehnte nach ihren Verwandten suchen, sondern auch weil Menschen diesem Verbrechen noch immer zum Opfer fallen. Heutzutage ist das Verschwindenlassen von Personen allerdings nicht nur eine Strategie von Staaten zur Unterdrückung politischer Gegner, denn Menschen können unter verschiedenen Umständen Opfer von Verschwindenlassen werden und dies oft durch Mitwirkung von sogenannten „nichtstaatlichen Akteuren“ (Privatpersonen, Gruppen, oder Organisationen, die unabhängig von Staaten handeln). Ein Beispiel ist die Problematik des Verschwindenlassens von Migrant*innen, ein anderes das Verschwindenlassen in Mexiko im Kontext des „Drogenkriegs“ in dem Land. In beiden Fällen sind organisierte kriminelle Gruppen für das Verschwindenlassen von Personen (mit-)verantwortlich, sei es, weil sie Menschenhandel betreiben oder als Schmuggler Migrant*innen auf gefährlichen Migrationswegen aussetzen, oder weil sie an Entführungen beteiligt sind oder Leichen zerstören oder verstecken.

Organisierte kriminelle Gruppen sind aus völkerrechtlicher Sicht nichtstaatliche Akteure, deren Taten nur unter bestimmten Bedingungen Menschenrechtsverletzungen im juristischen Sinne darstellen. Gewaltsames Verschwindenlassen wird zum Beispiel im Artikel 2 des Internationalen Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen so definiert, dass dieses Verbrechen „durch Bedienstete des Staates oder durch Personen oder Personengruppen, die mit Ermächtigung, Unterstützung oder Duldung des Staates handeln” begangen werden muss. Es muss dementsprechend bewiesen werden, dass eine organisierte kriminelle Gruppe mit „Ermächtigung, Unterstützung oder Duldung des Staates” gehandelt hat, um aus menschenrechtlicher Sicht von gewaltsamem Verschwindenlassen zu sprechen. Die Klassifizierung ist wichtig, da sie einen Einfluss auf die staatlichen Pflichten gegenüber Opfern von Verschwindenlassen, sowie ihren Angehörigen, hat.

In meiner Doktorarbeit habe ich das Verschwindenlassen durch organisierte kriminelle Gruppen aus zwei disziplinären Perspektiven, einer juristischen und einer empirisch-qualitativen, untersucht. Der erste Teil der Arbeit analysiert den internationalen menschenrechtlichen Rahmen über das Verschwindenlassen bezüglich der Frage der Staatenverantwortlichkeit gegenüber Verschwindenlassen durch nichtstaatliche Akteure generell, und speziell durch organisierte kriminelle Gruppen als eine Subgruppe solcher Akteure, als rechtliche Basis für Opferentschädigung. Meine Analyse zeigt, dass der internationale Rahmen durchaus Schutz für Opfer von Verschwindenlassen durch nichtstaatliche Akteure bietet, dieser allerdings von der Interpretation der staatlichen Pflichten, insbesondere zur Verhütung von Taten nichtstaatlicher Akteure, durch Menschenrechtsgremien und Gerichte abhängt. Außerdem bestehen weiterhin einige Grauzonen im internationalen Rahmen, wie z.B. die genaue Bedeutung der „Duldung“ im Sinne der Definition des gewaltsamen Verschwindenlassens, die der UN-Ausschuss gegen Verschwindenlassen klären könnte.

Der zweite Teil der Arbeit befasst sich mit dem Verschwindenlassen in Mexiko im Kontext des sogenannten „Drogenkriegs“ (2006-heute) und kontrastiert, anhand Interviews mit Menschenrechtler*innen, die sich beruflich mit dem Thema des Verschwindenlassens in Mexiko befassen, die juristische Analyse mit der Realität derer, die den internationalen Rahmen in ihrer Arbeit benutzen. Aus den Interviews geht deutlich hervor, dass selbst wenn organisierte kriminelle Gruppen klar als direkte Täter von Verschwindenlassen identifiziert werden können, es gleichzeitig immer eine Verbindung zum Staat gibt, sei es durch Korruption, direkte Mittäterschaft, oder das strukturelle Versagen des Staates die Bevölkerung zu beschützen. Die Komplexität der Beziehungen zwischen Staat und Kriminalität kann allerdings durch den rechtlichen Rahmen der Bestimmung der Staatenverantwortlichkeit nicht ausreichend erfasst werden. Stattdessen schafft er eine juristische Fiktion der Trennbarkeit von „Staat“ und „Kriminalität“, die wiederum die Verleugnung von Verantwortlichkeit für den unterlassenen Schutz der Bevölkerung von Seiten des mexikanischen Staates vereinfacht.

Das Fazit meiner Doktorarbeit ist somit, dass, in Bezug auf den Schutz von Opfern von Verschwindenlassen durch organisierte kriminelle Gruppen, der Staat noch immer eine wichtige Rolle spielt, zumal es staatliche Akteure sind, die durch ihr fehlendes Handeln, oder korrupte Beziehungen zu kriminellen Gruppen, dieses Verbrechen weiterhin ermöglichen und erlauben. Es fehlt jedoch ein juristisches Konzept um die Verantwortlichkeit für einen strukturellen Unterlass des Schutzes durch den Staat, wie es in Mexiko der Fall ist, bestimmen zu können.

Guercke, L.C., 2021. Protecting Victims of Disappearances Committed by Organised Criminal Groups: State Responsibility in International Human Rights Law and the Experiences of Human Rights Practitioners in Mexico. PhD Thesis. KU Leuven: 

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