Täglich verschwinden Menschen in Mexiko spurlos. Camilo Vicente Ovalle rekonstruiert in „Ausgesetzte Zeit“ wie Politik, Sicherheitskräfte und Justiz seit den 1940 Jahren systematisch den staatlichen Unterdrückungsapparat ausbauten und die Praxis des Verschwindenlassens zum Ausschalten jeglicher Dissidenz einsetzten. Eine Rezension und weitere Literaturhinweise zum Thema.

Rezension:
[Tiempo suspendido] Una historia de la desaparición forzada en México, 1940 – 1980
[Ausgesetzte Zeit] Die Geschichte des Verschwindenlassens in Mexiko 1940 – 1980 (Camilo Vicente Ovalle)

Christiane Schulz 18. Juli 2020

Heutzutage suchen tausende von Familien nach ihren Angehörigen und nach Erklärungen. Mexiko ist ein Land der Verschwundenen, der Leichen ohne Namen und der Massengräber. Camilo Vicente Ovalle widmet seine Forschung jenen historischen Entwicklungen, die bis heute den strukturellen Hintergrund für diese grausamen Verbrechen bilden. Denn die Praxis des Verschwindenlassens, so der Historiker, geht in Mexiko einher mit dem Aufbau des autoritären Staates und dessen Unterdrückungsapparat ab den 1940er Jahren. Neben Gesprächen mit Betroffenen und ehemaligen Verhafteten-Verschwundenen hat der Autor vor allem in staatlichen Archiven recherchiert. In den Archiven finden sich Dokumente über die Opfer, Angaben zu Verhafteten – Verschwundenen oder Namenslisten und gleichzeitig stellen diese Archive selbst einen Teil der repressiven Strukturen dar. Die jeweils Verantwortlichen in Militär, Polizei oder Justiz waren Teil des Staatsapparates ebenso wie die Archive der verschiedenen Sicherheitskräfte oder der Justiz. Die Archive hatten Schlüsselfunktionen, über die dort gelagerten Informationen zu den Aktivitäten der politischen Dissidenz oder ihren Lebensgewohnheiten konnten Verhaftungen durchgeführt und legitimiert werden – bis hin zur Organisation des gewaltsamen Verschwindenlassens der Opfer.

Erstmals liegt eine fundierte Recherche vor, die das Verschwindenlassen als staatliche Praxis mit der Konsolidierung des mexikanischen Staates, dem Ausbau autoritärer Strukturen bei gleichzeitiger politischer und wirtschaftlicher Modernisierung belegt. Zwischen 1940 und 1970 wird das gewaltsame Verschwindenlassen vereinzelt und mit minimalem Aufwand oder Technik angewandt. Im Prozess der Konstruktion eines Konsens zwischen den Eliten und dem autoritären Staat wurden zuerst Anhänger parteipolitischer Organisationen – auch aus den Reihen der regierenden Staatspartei, sofern sie sich gegen den hegemonialen Kurs der Parteiführung stellten – Opfer von gewaltsamen Verschwindenlassen. Nachdem die Partei der Institutionellen Revolution (PRI) ihre absolute Kontrolle über den Staatsapparat konsolidiert hatte, gerieten Aktivisten linker Gruppierungen in das Visier staatlicher Repression. Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Praxis des Verschwindenlassens Teil staatlicher Gewalt, aber ohne explizit formulierte strategische Umsetzung.

Dies ändert sich ab 1971, staatliche Akteure nutzen das Verschwindenlassen systematisch im Kontext sogenannter Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen. Ab diesem Zeitpunkt variiert das Vorgehen, die Betroffenen werden – abhängig vom staatlichen Interesse – zeitweise oder dauerhaft Opfer von Verschwindenlassen. Zu bestimmten Phasen verhafteten Sicherheitskräfte Personen, hielten sie zeitweise in geheimen Haft- und Folterzentren fest, um möglichst viele Informationen zu sammeln und anschließend weitere repressive Maßnahmen zu entwickeln. Andere Opfer wurden verhaftet, gefoltert und verschwanden für immer. Die Praxis des zeitweisen wie dauerhaften Verschwindenlassens ist Teil einer Aufstandsbekämpfungsstrategie mit dem Ziel, die Guerilla physisch zu eliminieren. Ab diesem Zeitpunkt wird das Verschwindenlassen institutionalisiert, das Vorgehen professionalisiert und spezifische Strukturen zur Umsetzung der Verbrechen aufgebaut. Dazu zählen Sondereinheiten der Sicherheitskräfte, spezielle Räumlichkeiten in Militär- und Polizei-Einrichtungen ebenso wie geheime Haftzentren außerhalb der bestehenden Institutionen, Anstieg des Personals sowohl im Verteidigungsministerium als auch im Innenministerium, die Anpassung der Gesetzgebung bis hin zur Teilnahme des Justizapparates.

Das Vorgehen und die Umsetzung der Verbrechen variierten je nach Bundesstaat, spezifischen Gegebenheiten und scheinbarem Gegner. Camilo Vicente Ovalle beschreibt detailliert die Unterschiede anhand der Bundesstaaten Guerrero, Sinaloa und Oaxaca. Gleichzeitig wurde die Praxis zentralisiert. Nationale Institutionen hatten die Kontrolle über das jeweilige Vorgehen und trafen die zentralen Entscheidungen. Die Praxis des Verschwindenlassens funktionierte über zwei Mechanismen: eine bestehende staatliche Infrastruktur der Aufstandsbekämpfung – und den legitimierende Diskurs der Aufstandsbekämpfung als „staatliche Wahrheit“. Der legitimierende Diskurs änderte sich ab 1977 und Anfang der 1980er Jahre. Fortan galt die Drogenmafia als zu bekämpfender Feind.

Camilo Vicente Ovalle leistet mit „[Ausgesetzte Zeit] Die Geschichte des Verschwindenlassens in Mexiko 1940 – 1980“ wesentliche Aufklärungsarbeit zu den strukturellen Hintergründen. Der Autor schlussfolgert: der mexikanische Staat hat die Verbrechen orchestriert.

Eine erste Systematisierung über das Verschwindenlassen als eine systematische Praxis in den 1970er Jahren hatte einige Jahre zuvor Roberto González Villareal veröffentlicht. In seinem Buch „Geschichte des Verschwindenlassens. Das Entstehen einer repressiven Technik“ beschreibt der Autor, wie ab 1969 politische Akteure, Sicherheitskräfte und lokale Eliten das Verschwindenlassen mit immer perfideren Methoden nutzten, um sich vermeintlicher Widersacher zu entledigen. Dazu zählt die Planung der Verbrechen ebenso wie die Umsetzung, die Festnahme und das gewaltsame Verschwindenlassen. Die Technik wird “neutral“, so der Autor, denn sie wird von jenen, die sie beherrschen und über die notwendigen Ressourcen verfügen, beliebig angewandt – gegen linke Aktivisten, Gewerkschaftsmitglieder ebenso wie gegen den wirtschaftlichen Konkurrenten oder den Gegenkandidaten um ein politisches Amt. Roberto González Villareal dokumentiert, wie das Verschwindenlassen bis hin zum Raub der Identität und damit des Verleugnens der Existenz des Opfers vorab geplant wurde, und die Täter – der Staat – durch die Leugnung der Verhaftung und der Verwischung von Spuren negiert, dass die betroffene Personen je gelebt hätten.

Beide Bücher belegen den Aufbau des staatlichen Repressionsapparates ab den 1940er Jahren – bei gleichzeitiger Negation aller staatlichen Verbrechen. Exekutive, Judikative und Legislative haben die entsprechenden Feindbilder aufgebaut, um im Rahmen der Guerillabekämpfung oder später im Kampf gegen die Drogenmafia staatliches Handeln zu legitimieren und Tätern Straflosigkeit zu garantieren. Das mexikanische System, die „perfekte Diktatur“ (Vargas Llosa), bekam Risse und nach 71 Jahren Herrschaft musste die bis dahin regierende Staatspartei PRI im Jahr 2000 die Regierungsführung abgeben. Damit hatte sich der Kontext zwar geändert – aber Menschenrechtsverbrechen und Straflosigkeit hatten und haben bis heute Bestand. Der Staat hat – unabhängig welche der politischen Parteien fortan die Regierungsverantwortung inne hatte – seine Verantwortung für den Schutz vor – und Aufklärung von – Menschenrechtsverbrechen weiterhin kontinuierlich negiert. Dies mussten die Familienangehörigen der Verschwundenen unter der vorangegangenen PRI-Herrschaft genauso schmerzlich erleben, wie jene, die in den folgenden Jahren Opfer zu beklagen hatten. Die Praxis des Verschwindenlassens erhielt neue Namen. Die Medien sprachen von „levantones“ (levantar = aufheben), bestenfalls von Entführungen. Die Behörden weigerten sich Anzeigen aufzunehmen, geschweige denn Untersuchungen über den Verbleib der Opfer zu unternehmen, besonders häufig mit dem Hinweis, die Taten seien der organisierten Kriminalität zuzuordnen.

Carolina Robledo Silvestre analysiert in ihrer 2017 veröffentlichten Arbeit „Drama social y política del duelo. Las desapariciones de la guerra contra las drogas en Tijuana“ die gesellschaftspolitischen Kontinuitäten und Brüche beispielhaft in Tijuana, im Norden Mexikos. Ihre Arbeit zeigt eindringlich wie die Praxis des Verschwindenlassens das gesellschaftliche Zusammenleben in seinen Grundfesten erschüttert. Gleichzeitig analysiert Carolina Robledo Silvestre Momente der Rekonstruktion sozialer Beziehungen durch die Betroffenen. Und die Autorin macht deutlich, dass die Wissenschaft der Gesellschaft und den Opfern gegenüber eine ethische-moralische Verantwortung hat, diese Verbrechen zu entlarven, die zugrunde liegenden Strukturen aufzudecken und Empfehlungen auszusprechen.

Die suchenden Familienangehörigen haben dank ihrer beharrlichen Forderung nach Aufklärung dem Staat ein offizielles Register mit den Namen von Verschwundenen abgerungen, ebenso Suchtrupps und seit 2017 ein Gesetz zum Schutz vor dem Verschwindenlassen. Gleichzeitig fehlt ein Bruch mit der Geschichte. Weiterhin werden Menschen in Mexiko täglich Opfer von Verschwindenlassen. Und weiterhin suchen tausende von Angehörigen nach ihren Liebsten. Jorge Verástegui González beschreibt, wie das Verschwindenlassen jene, die zurück bleiben, zur Suche und zur Erinnerung an das Leben zwingt. In „Geschichten vom Leben“ erzählen Mütter, Schwestern, Ehefrauen vom Leben ihrer abwesenden Liebsten, von dem „unterbrochenen“ Leben der Verschwundenen. Die Suche ist eine unabdingbare Notwendigkeit für jene, die die Leere der Abwesenheit ertragen müssen. Und es ist weit mehr als die Suche nach den Verschwundenen. Es ist der Versuch das abwesende Leben dem Strudel des Verschwindenlassens zu entreißen. Es ist die die Suche nach Leben!

Camilo Vicente Ovalle (2019): [Tiempo suspendido] Una historia de la desaparición forzada en México, 1940 – 1980, Ciudad de México, Bonilla Artigas Editores.
Jorge Verástegui González (Editor 2018): Memoria de un corazon ausente. Historias de vida, Ciudad de México, Heinrich Böll Stiftung.
Carolina Robledo Silvestre (2017): Drama social y politica del duelo. Las desapariciones de la guerra contra las drogas en Tijuana, Ciudad de México, Colegio de México.
Roberto González Villarreal (2012): Historia de la desaparición. Nacimiento de una tecnología represiva, Ciudad de México, Editorial Terracota.

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