von Barbara Lochbihler, Mitglied im UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen, April 2022
Acht Jahre Verhandlungen hatte es gedauert, bis der vom UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen (CED) 2013 erstmals angefragte Besuch in Mexiko schließlich im November 2021 stattfinden konnte. In diesen Jahren hat sich zwar einiges verändert im Land, doch die Zahl von gewaltsam verschwundenen Menschen ist bis heute erschreckend hoch. Rund 95.000 Verschwundene sind offiziell registriert und allein während des elftägigen Besuchs der Delegation wurden mehr als 100 Personen als verschwunden gemeldet. Am 12. April stellte CED die Erkenntnisse und Empfehlungen nach seinem Besuch in Mexiko in einer Pressekonferenz offiziell vor.
Die Reise war in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung für CED: der erste Staatenbesuch (Artikel 33) überhaupt seit Inkrafttreten der Konvention, eine herausfordernde politische Situation in einem Land mit gravierenden Problemen und komplexen Strukturen in Bezug auf das Verschwindenlassen und entsprechend hohe Erwartungen der Zivilgesellschaft vor Ort an den Besuch. Die vier Ausschussmitglieder Carmen Rosa Villa Quintana (Vorsitzende und Delegationsleiterin), Juan-Pablo Albán Alencastro, Juan-José Lopez Ortega und Horacio Ravenna besuchten 13 Bundesstaaten, sprachen mit Regierungs- und Militärrepräsentanten und Behörden und trafen Opfer, deren Interessenverbände und NGOs. Sie waren bei Exhumierungen anwesend und besuchten Hafteinrichtungen für Migrant*innen. Sie berichteten uns im Ausschuss sichtlich bewegt vom Schmerz der suchenden Familienmitglieder und von deren beeindruckender Beharrlichkeit gegenüber Ämtern und Politiker*innen, um die Wahrheit über das ihren Angehörigen Geschehene herauszufinden. „Der Wert des menschlichen Lebens zählt nicht viel in Mexiko“, erzählte ein Kollege erschüttert, nachdem er auf einer Mülldeponie Leichenteile von Verschwundenen gesehen hatte. Ein kurzes Video macht die Begegnungen und Erfahrungen der Delegation während der Reise sehr anschaulich und lässt ahnen, warum der abschließende Bericht so viele Seiten schwer ist.
Bereits auf der Pressekonferenz unmittelbar nach dem Besuch begrüßte die Delegation zwar rechtliche und institutionelle Verbesserungen, ließ aber keinen Zweifel an der Dimension dieser schweren Menschenrechtsverletzungen in Mexiko: „Gewaltsames Verschwindenlassen ist weit verbreitet und die Straflosigkeit nahezu absolut.“ Frühere CED-Empfehlungen sind weiterhin nicht umgesetzt, die Verwicklung von Staatsbediensteten in organisierte Kriminalität ist besorgniserregend und die systematische Straflosigkeit trägt mit dazu bei, dass suchende Angehörige selbst hohe Risiken eingehen.
Der Ausschuss wiederholt im Abschlussbericht die dringende Forderung nach einer nationalen Präventionspolitik für alle Behörden und deutlich mehr Anstrengungen zur Beendigung der Straflosigkeit. Der umfassende Bericht beschreibt die aktuellen Trends, die Ursachen und die anhaltenden Herausforderungen im Hinblick auf das Verschwindenlassen von Personen. So sind die Zahlen in den vergangenen Jahren vor allem für besonders vulnerable Gruppen wie Kinder und Jugendliche, Frauen und Migrant*innen gestiegen. Auch Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen sind besonders gefährdet. Aufgrund der immensen forensischen Krise konnten über 52.000 Leichen teilweise seit Jahren noch nicht identifiziert werden.
Der Bericht beschreibt nicht nur im Detail die institutionellen, juristischen und politischen Probleme in Mexiko, sondern empfiehlt auch zahlreiche Maßnahmen, um das gewaltsame Verschwindenlassen wirksam und nachhaltig zu bekämpfen und zukünftig zu verhindern. Wichtig dabei ist neben den notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen, dass die verschiedenen Behörden und Institutionen auf allen Ebenen besser – oder überhaupt erst – zusammenarbeiten, um Verschwundene zu suchen, Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen und Familien zu ihrem Recht auf Wahrheit zu verhelfen.
Trotz aller Hoffnungen der Angehörigen und Organisationen kann der Besuch des Ausschusses nicht quasi über Nacht die Situation zum Besseren wenden. Aber die große Medienaufmerksamkeit im Land zeigte, dass hier der Finger in eine große Wunde gelegt wurde und den Familien und Aktivist*innen größtmögliche Aufmerksamkeit und Unterstützung des Ausschusses sicher ist. Mit dem Bericht kann kein Verantwortlicher in Mexiko mehr sagen, man wüsste nicht um Lösungsansätze. Und nicht zuletzt ist der umfassende Bericht eine hervorragende Grundlage für die Mexikoarbeit auch anderer UN Menschenrechtsgremien.