Schätzungsweise sind in den letzten Jahren 30.000 Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken. Auch sie hatten Vater und Mutter, eine Heimat, eine Geschichte. In ihrem nun in deutscher Übersetzung erschienenen Buch „Namen statt Nummern. Auf der Suche nach den Opfern des Mittelmeers“ (Rotpunktverlag) berichtet die Mailänder Gerichtsmedizinerin Cristina Cattaneo von ihrem Bestreben, den menschlichen Überresten wieder Namen, eine Identität zu geben. Eine Rezension.

Rainer Huhle 17. Juni 2020

„Italien, das Land, das herzlos Flüchtlinge abweist, Italien, das Land, wo die Behörden machtlos und unfähig sind, Italien…“. Wer solche Vorurteile pflegt, dem sei dieses schmale Buch besonders empfohlen. Denn Italien ist eben auch das Land, an dem ein großer Teil der Migranten und Flüchtenden ankommt, die aus Afrika nach Europa zu gelangen suchen.  Entsetzlich viele von ihnen kommen jedoch nie an, sondern ertrinken unterwegs im Mittelmeer, manchmal schon in Sichtweise der ersehnten Küste. Ein solches Drama vor der Insel Lampedusa erschütterte im Jahr 2013 die Welt,  und Viele sahen, wie die Fischer alles taten, um die Menschen des sinkenden Schiffs zu retten und wie sehr sich die Behörden und Bewohner der Insel um die Überlebenden kümmerten. Was aber passierte mit den Toten?

Auch die Mailänder Gerichtsmedizinerin und forensische Anthropologin Cristina Cattaneo erzählt, wie sehr sie dieses Ereignis, bei dem 366 ertranken, während 155 gerettet wurden, erschütterte. Für sie war es der Beginn einer neuen Phase ihres Berufslebens und eines anhaltenden humanitären Engagements. Gerichtsmediziner sind normalerweise damit beschäftigt, die Todesursache von Personen festzustellen, die Opfer eines Verbrechens geworden sind. Aber schon während ihrer Tätigkeit in Mailand war Cattaneo damit konfrontiert worden, dass jedes Jahr ein paar Dutzend Leichen gefunden wurden, die nicht identifiziert werden konnten und schließlich anonym begraben werden mussten. Dies sind keine riesigen Zahlen, etwa im Vergleich zu Mexiko, wo die vor zwei Jahren gegründete Nationale Kommission zur Suche nach Verschwundenen Zehntausende solcher unidentifizierter Toten ausfindig gemacht hat. Beim Bemühen um die Identifizierung dieser Toten in Mailand stellte Cattaneo aber das Gleiche fest, was auch in Mexiko und anderen Ländern, wo das „Verschwindenlassen“ eine systematische Praxis ist, gilt: nach jeder dieser Personen sucht jemand, hinter jedem nicht identifizierten Toten steht das Drama einer Familie, die quälende Ungewissheit über ein Schicksal.

Die einzige Organisation, die sich am Anfang um die Toten des Mittelmeers kümmerte, war das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). An das IKRK wandten sich die Angehörigen der auf der Überfahrt Vermissten, und dort begann man, die von den Angehörigen gemachten Angaben über die Vermissten in einer Datenbank zu sammeln. Doch diese „Ante mortem“ – Daten halfen wenig, wenn es keine Körper gab, mit denen sie verglichen werden konnten. Denn die lagen auf dem Grund des Mittelmeers oder in den gesunkenen Schiffswracken. Cattaneo und einige ihrer Kollegen fragten sich, mit welchem Recht sie ihre ganze Arbeitskraft und die Ressourcen ihrer Institute für die (unbekannten) Toten in Mailand einsetzten, während sich niemand um die Identifizierung der weitaus größeren Zahl von Toten vor den Küsten des Landes kümmerte. Schließlich kamen sie zu dem Schluss, dass die Toten vor den Küsten die gleiche Aufmerksamkeit verdienten wie die Toten in Mailand, weil alle Familien bei ihrer Suche das gleiche Recht auf Unterstützung haben und fassten den Entschluss etwas zu unternehmen.

Was dieser Entschluss für Folgen hatte, welche enormen verwaltungstechnischen, juristischen, informationellen und natürlich medizinischen Probleme zu bewältigen waren, als sich ein Team um Cristina Cattaneo vornahm, die Toten des Mittelmeers zu identifizieren, beschreibt sie ausführlich in diesem Buch. Im Fall des Unglücks vor Lampedusa hatten die Behörden die Toten geborgen und nach den kriminaltechnischen Regeln die für eine Identifizierung dienlichen Informationen registriert. Diese „Post Mortem“ – Daten wurden nun sorgfältig in eine spezielle Datenbank eingetragen. Eindrucksvoll schildert Cattaneo, wie ihr Team ein Netzwerk mit den italienischen Behörden, internationalen Institutionen und Medien aufbaute, um den Angehörigen, die nach Vermissten suchten, Gelegenheit zu geben, ihr Wissen über die Merkmale der vermisste Person weiterzuleiten, um es schließlich mit den vorhandenen Daten über die Toten abzugleichen und hoffentlich zu einer Identifizierung zu gelangen. Ihre Schilderung ist einerseits eine Art Grundkurs in forensischer Medizin und Anthropologie, vor allem aber ein Lehrstück über die Kunst der Kooperation, die Synergie, die entsteht, wenn es in allen beteiligten Institutionen genügend Menschen gibt, die der Überzeugung sind, dass die Angehörigen bei ihrer Suche ein Recht auf jede mögliche Unterstützung haben, egal ob sie aus Somalia, Eritrea oder Italien kommen.

Das sollte sich erweisen bei dem Unternehmen, das im zweiten Teil des Buches im Mittelpunkt steht: Das Sinken eines mit fast tausend Menschen völlig überladenen Fischkutters vor der libyschen Küste  im April 2015, der von der italienischen Marine gehoben und in den Hafen von Catania in Sizilien geschleppt wurde. Die sizilianische Feuerwehr barg dann in Zusammenarbeit mit den anderen Behörden und unter fachlicher Begleitung des forensischen Teams aus mehreren italienischen Universitäten unter Leitung von Cristina Cattaneo die Leichen, an deren Identifizierung dann auf einem von der Marine eigens ausgestatteten Gelände über Monate gearbeitet wurde. Zu Recht hebt Cattaneo dieses Engagement und diese Kooperation von Behörden als „fast unglaublich und sehr berührend“ hervor, Behörden, zu deren Kernaufgaben keineswegs das Bergen von gesunkenen Schiffen gehört. Die Marine hob nicht nur das Schiff, sie suchte und barg auch viele Leichen, die um das Schiff herum auf dem Meeresgrund lagen und brachte sie auf ihrem eigenen Schiff ebenfalls nach Sizilien. Cattaneo beschreibt ausführlich, welche gewaltigen Herausforderungen das ganze Unternehmen auch für erfahrene Experten bedeutete, welche Lernprozesse auch sie und ihr Team dabei immer wieder durchmachen mussten, um keine Indizien zu verlieren, die irgendwann zur Identifizierung durch einen Angehörigen dienen konnten. Bei der Bestimmung des Alters stellten sie fest, dass das ganze Schiff fast nur von sehr jungen Migranten, oft noch minderjährig besetzt gewesen war. Bei der Untersuchung der Kleidung, sofern sie noch auffindbar bzw. einem bestimmten Leichnam zuzuordnen war, lernten sie, jeden Saum genauestens zu untersuchen. Denn häufig hatten sich die Migranten bestimmte ihnen besonders wichtige Gegenstände dort eingenäht. Das konnte ein Dokument wie ein Studienzeugnis, ein Schlüssel, ein Plastiksäckchen mit ein bisschen Sand oder Erde oder, wenn die Forensiker Glück hatten, eine Adresse sein, die zur Identifizierung der Person führen kann. Denn der andere Teil dieser Arbeit an den „Post Mortem“ – Merkmalen war die Suche nach den Suchenden. Die bereits bestehende Datenbank wurde mit den neuen Daten gefüllt und über das Rote Kreuz und andere Institutionen bekannt gemacht. Für Cattaneo und ihre KollegInnen war es die größte Befriedigung, wenn auf diesem Weg Angehörige sich die Gewissheit verschaffen konnten, dass ihr vermisster Verwandter unter den Geborgenen war, dass sie ihn nach Möglichkeit in die Heimat zu einer würdigen Bestattung überführen konnten und dass die Ungewissheit über sein Schicksal endlich endete. Insgesamt konnten die Forensiker am Ende dieser Arbeit 528 Opfer identifizieren. Zahllose weitere Reste überführten sie ins Labor nach Mailand, um eventuell noch weitere Spuren sicher zu stellen.

Am Ende des Buches schreibt Cristina Cattaneo, wie sehr die Arbeit mit diesen vielen Toten ihren Blick auf die Lebenden verändert hat, auf das Schicksal der Migranten, die vor Verfolgung und Elend in Europa Zuflucht suchen, selbst wenn sie auf diesem Weg ihr Leben riskieren. Sie hat es sich deswegen nun auch zur Aufgabe gemacht, ihre professionellen Kenntnisse und Ressourcen einzusetzen, um bei den Überlebenden Nachweise von Misshandlungen oder Folter zu erbringen, mit deren Hilfe die Asylsuchenden ihre Angaben vor den Behörden glaubhaft machen können. Cattaneo war es auch, die lautstark in den Medien protestierte, als zu Beginn der Coronakrise gerade in ihrer Region nicht die nötigen Ressourcen bereitgestellt wurden, um die am Virus Gestorbenen würdig zu behandeln und zu beerdigen. Für uns, die wir ihr Buch in der deutschen Übersetzung lesen, ist vielleicht auch wichtig, was Cattaneo über den Kutter schreibt, den sie alle nur „Il Barcone“ – Der Riesenkutter – nennen, in einem Memorandum für seine Bewahrung als Denkmal:

„Dieser Fischkutter voller sterblicher Überreste ist ein unvergleichliches Symbol für die Menschenrechtsverletzungen und die bisher größte Katastrophe im Zusammenhang mit den Migrationsbewegungen dieses Jahrhunderts. Er zeugt auch von der einzigartigen Rolle Italiens in Europa, vom italienischen Engagement, diesen sterblichen Überresten von Menschen mit Würde zu begegnen und die Rechte der Nachkommen, Eltern und Geschwister der bei der Überfahrt Ertrunkenen zu wahren.“

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