von Lene Guercke 21. Juni 2022
Das gewaltsame Verschwindenlassen wird als eine der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen angesehen, da es nicht nur die verschwundene Person jeglichen Rechtsschutzes beraubt, sondern auch die Angehörigen in einen oft unerträglichen Zustand der Unsicherheit versetzt. So geht es auch den Familien in Nepal, die seit dem Bürgerkrieg, der von 1996 bis 2006 andauerte, ihre verschwunden Angehörigen suchen und bis heute auf Antworten auf ihre Fragen nach deren Verbleib warten.
Während des zehnjährigen nepalesischen Bürgerkrieges zwischen der Regierung und maoistischen Rebellen wurden über 1,300 Menschen Opfer von Verschwindenlassen. Viele wurden mitten in der Nacht von Sicherheitskräften aus dem Bett geholt und festgenommen und sind seitdem nicht mehr gesehen worden. Andere wurden von maoistischen Kämpfern verschleppt. Der Grund für die Festnahmen war oft, dass die Opfer beschuldigt wurden, die jeweils anderen Konfliktpartei zu unterstützen oder Mitglied zu sein. Ihre Familien haben die Verhaftungen oft miterlebt und manche sind selbst für einige Wochen, Monate, oder Jahre festgenommen worden. Die Opfer, besonders Männer, stammten meist aus armen, marginalisierten Gruppen der Gesellschaft in ländlichen Gegenden Nepals und waren oft die Haupternährer ihrer Familien.
Gescheiterte institutionelle Maßnahmen
2006 endete der Bürgerkrieg mit einem Friedensabkommen, das unter anderem den Aufbau einer Wahrheitskommission sowie einer Kommission für gewaltsames Verschwindenlassen vorsah. Beide Institutionen wurden gegründet, haben aber bis heute keine bedeutenden Fortschritte gemacht und werden darum von Opfergruppen als gescheitert angesehen. Die Kommission für Verschwindenlassen hat nicht einmal das vorgesehene nationale Datenregister von Verschwundenen aufgebaut. Mit Sitz in der Hauptstadt Kathmandu sind beide Institutionen auch buchstäblich weit entfernt von den Opfern des Konflikts, da die meisten im ländlichen Raum, weit weg von der Hauptstadt, leben. Die Täter*innen bleiben noch immer unbestraft. Für die Familien der Verschwundenen bedeutet dies, dass sie auch 16 Jahre nach dem Friedensabkommen noch immer darauf warten zu erfahren, was mit ihren Angehörigen passiert ist und wo sie sind. Bis jetzt sind nur in Einzelfällen Überreste identifiziert worden und obwohl man weiß, dass es Massengräber gibt, gibt es bis jetzt keinen Plan diese auszugraben und die Opfer zu identifizieren. Die Identifizierung von sterblichen Überresten ist ein wichtiger Teil der Wahrheitsfindung und Reparation in Fällen von Verschwindenlassen, damit die Angehörigen sie gemäß ihren kulturellen Traditionen bestatten und den Trauerprozess beginnen können.
NEFADs Erinnerungsarbeit
16 Jahre nach dem Friedensabkommen und ohne Ergebnisse von Seiten der Institutionen, die zu einer kollektiven Erinnerung in Nepal beitragen könnten, geraten die Verschwundenen leicht in Vergessenheit, besonders weil die meisten aus marginalisierten Bevölkerungsgruppen stammen. Doch für die Familien ist die Erinnerung an ihre Angehörigen und deren Schicksal von großer Bedeutung, denn sie ist das Einzige was ihnen von ihren Verschwundenen erhalten bleibt. Manche haben auch die Festnahmen oder Hinrichtungen ihrer Angehörigen gesehen und haben diese Bilder noch immer im Kopf. Da es von offizieller Seite keine befriedigenden Maßnahmen zur Wahrheitsfindung und Erinnerung gibt, nehmen es einige Familien selbst in die Hand diese voranzutreiben und damit auch ihrem Schmerz und dem Frust über die institutionelle Tatenlosigkeit Luft zu machen. So hat die Angehörigenorganisation NEFAD, ein Netzwerk aus lokalen Gruppen von Angehörigen, die Erinnerungsarbeit zu einem ihrer Hauptthemen gemacht um so auch der Trägheit der offiziellen Institutionen entgegenzuarbeiten.
Nach Ende des Bürgerkriegs haben Angehörige von Verschwundenen, die nach ihren Familienmitgliedern suchten, wie auch Ram Bhandari, kleine Verbände gegründet um sich gegenseitig zu unterstützen. Einige dieser Verbände sind nach 2006 Mitglieder des von Bhandari gegründeten Angehörigennetzwerks NEFAD geworden, das, von Familien geleitet, seit 2008 auf nationaler Ebene in Nepal arbeitet, um Familien zu unterstützen, Lobbyarbeit zu leisten, und ihre Interessen gegenüber der Regierung zu Vertreten. 2012 organisierte NEFAD eine erste Kampagne, um an die Verschwundenen zu erinnern und aufzuklären, an der sich Aktivist*innen, Photograph*innen, Angehörige, und Schriftsteller*innen beteiligten. Als ein Mitglied von NEFAD in die lokale Regierung einstieg, wurde durch seine Initiative 2017 in der Barbardiya Gemeinde (Bardiya Distrikt) ein Grundstück zur Verfügung gestellt, um einen Gedächtnis-Park für die Verschwundenen aufzubauen, wo deren Namen auf einer Mauer verewigt werden sollen. Es gibt einer Reihe solcher Initiativen von Angehörigen und lokalen Regierungen, um die Erinnerung zu fördern und Gedenkstätten einzurichten, die dazu beitragen das Gedächtnis wachzuhalten und die Anliegen der Überlebenden auf lokaler Ebene in politische und soziale Prozesse einzubringen.
Nepalesische Advocacy Quilts
Eine Initiative von NEFAD in einer besonders von Verschwindenlassen betroffenen Region im Westen Nepals (Bardiya), die von einer Gruppe Frauen ins Leben gerufen wurde und geleitet wird, ist die Herstellung von Advocacy Quilts. Mit Unterstützung des Advocacy Projects sind 2016 Frauen und Töchter von Verschwundenen zusammengekommen, um ihre Erinnerungen an die Festnahmen und ihre Gefühle aufzusticken. Für viele war dies eine seltene Gelegenheit ihre Geschichte – und die ihrer Verschwunden oder getöteten Angehörigen – festzuhalten. Das Projekt wurde mit Hilfe von Crowd-funding finanziert und von einer amerikanischen Quilterin begleitet, die die Frauen dabei unterstützte, sticken zu lernen und die Stoffteile mit den verschiedenen Geschichten zu zwei großen Quilts zusammenzunähen. Seitdem trifft sich die Gruppe von Stickerinnen regelmäßig und sie produzieren Quilts und Taschen, um sie zu verkaufen. So wurde aus dem Erinnerungsprojekt auch eine Einnahmequelle.
Verschwindenlassen hat nicht nur traumatische, sondern auch schwere wirtschaftliche Folgen, da die verschwundenen Männer oft Hauptversorger ihrer Familien waren. So müssen besonders Frauen nicht nur Wege finden mit ihrem Schmerz umzugehen und Antworten zu erhalten, sondern auch ihre Familien zu ernähren. Die Herstellung von Quilts und Taschen der NEFAD-Mitglieder hat also mehrere Funktionen. Zum einen kommen Angehörige zusammen und finden Stärke und Motivation durch die gemeinsame Arbeit. Denn im Vergleich zu anderen Tätigkeiten, wie z.B. Lobbyarbeit oder gerichtliche Verfahren, die oft viele Jahre dauern und kaum Resultate erzielen, ist die direkte Arbeit mit Stoffen etwas Greifbares, das auch Sinn gibt. Zum anderen bringt der Verkauf von Quilts und Taschen, die mit lokalen Materialien hergestellt werden und symbolkräftige Motive tragen (wie z.B. Tiger), auch dringend gebrauchte Einnahmen. Schließlich werden die Erinnerungsquilts auch für Sensibilisierungsarbeit im Ausland genutzt und wurden bereits in den USA und bei einem Treffen der UN-Arbeitsgruppe gegen gewaltsames oder unfreiwilliges Verschwindenlassen (WGEID) in Genf ausgestellt.
Für diesen Beitrag haben wir mit Ram Bhandari, einem der Gründer des Angehörigennetzwerkes NEFAD („Network of Families of the Disappeared in Nepal“), über den Aktivismus der Angehörigen von Verschwundenen in Nepal gesprochen. Rams Vater, der Lehrer und Kulturaktivist war, wurde im Dezember 2001 von Sicherheitskräften festgenommen und ist seitdem verschwunden.
Dieses Video vom Advocacy Project (auf Englisch) gibt einen Überblick über das Quilt-Projekt: https://www.youtube.com/watch?v=iz2nDPWLEjc.