Gerold Schmidt 9. September 2020
Interview – Die Unabhängige Monitoring-Gruppe El Salvador (GMIES) arbeitet von Ausnahmen abgesehen nicht direkt mit Familienangehörigen verschwundener Migrant*innen. Das Team analysiert jedoch die Situation der migrierenden zentralamerikanischen Menschen und den politischen Kontext in der Region. Dazu interviewte Gerold Schmidt am 3. August 2020 GMIES-Direktor Vinicio Sandoval.
G.S.: Vinicio, was hat sich mit der nun über anderthalb Jahren amtierenden mexikanischen Regierung für zentralamerikanische Migrant*innen verändert?
V.S.: Ich glaube, mit dem Regierungswechsel haben wir alle auf bessere Bedingungen für eine Koordination gehofft. Die Regierung schien viel zugänglicher bei Problematiken zu sein, die zuvor kaum wirklich angegangen wurden: Migration, Asyl, Verhaftungen. Wir dachten, es könne nicht schlimmer kommen. Doch in der kurzen Zeit dieser neuen Regierung, im letzten Jahr, wurde das beim Thema Migration widerlegt. Mexiko hat sich der US-Position angepasst. Genau wie Zentralamerika. Und die US-Position heißt: Grenzen schließen, irreguläre Migration verhindern, keine Asylsuchenden in den USA. Mexiko kommt die Aufgabe zu, den Menschenstrom auf seinem Territorium zu stoppen. Und die Mauer zu verschieben – von der Nordgrenze an die Südgrenze. Die Mauer ist jedoch noch weitergezogen. Nach Guatemala, nach El Salvador, nach Honduras. Ein Beispiel: Mit der neuen Regierung in El Salvador wurde erstmals in der Landesgeschichte eine Migrationspolizei eingerichtet. Sie bekam den Auftrag, keine Menschen, keine Salvadorianer*innen auf irreguläre Weise aus dem Land reisen zu lassen. Wer nach Guatemala wollte, musste auf einmal seine Papiere dabeihaben. Wer Mexiko zum Ziel hatte, ein Visum. Das war vorher anders. Was jetzt passiert, geht an der Realität vorbei.
Mexiko verhält sich nicht anders an seiner Südgrenze. Unter der Vorgängerregierung konnten Organisationen asylsuchende Personen recht einfach begleiten. Sie kamen mit ihnen an die Grenze und erklärten deren Asylabsichten. Der Antrag konnte bei der am nächsten zur Grenze gelegenen Anlaufstelle der Mexikanischen Kommission für Flüchtlingshilfe (COMAR) ausgefüllt werden. Das lief in einem gesprächsbereiten Rahmen ab. Die aktuelle Regierung hat das in dieser Form abgeschafft. Sie ist noch weiter gegangen, sie hat Organisationen angefeindet. Eine wurde des Menschenhandels, der Schlepperei von Migrant*innen beschuldigt.
G.S.: In den ersten Monaten nach dem Amtsantritt der Regierung sah das noch anders aus…
V.S.: Am Anfang war der Direktor der Nationalen Migrationsbehörde (INM) ein Akademiker. In seinen Untersuchungen und Veröffentlichungen trat er für die Migrant*innen ein. Er bereiste Zentralamerika, um über Dringlichkeiten, eine Koordination, ein Sonderprogramm zu diskutieren. Das hörte sich sehr vielversprechend an. Doch das erwies sich unter seinem Nachfolger als Illusion. Nun haben wir eine mexikanische Regierung, die sich in ihrer Einstellung gegen die Migrant*innen kaum vor den USA verstecken muss.
G.S.: Gibt es Spielräume?
Es gibt geringe Spielräume für den Dialog. Die mexikanische Migrationsbehörde hat einen Bürger*innen-Beirat mit Organisationen der Zivilgesellschaft. Ich nehme für GMIES in diesem Beirat teil. Dort werden die wenigen Initiativen zugunsten der Migration angestoßen. Zum dritten Mal wird es ein temporäres Regulierungsprogramm für Migrant*innen geben, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums und mit bestimmten Voraussetzungen ins Land kamen. Doch das ist ein Tropfen auf dem heißen Stein im Vergleich zu dem, was Mexiko mit seinen Kapazitäten leisten könnte. Es ist eine der wenigen Chancen, die Mexiko eröffnet.
Auf der anderen Seite gab es Arbeitsmöglichkeiten für Migrant*innen, die mit den Karawanen kamen. Doch das funktionierte nicht richtig, denn Mexiko wollte diese Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen unterbringen. Teilfertigungsfabriken, Landwirtschaft. Das ist keine ökonomische Option für die zentralamerikanischen Migrant*innen. Die zentralamerikanischen Gesetze garantieren einen viel höheren Mindestlohn als es ihn in Mexiko im Rahmen solcher Programme gibt. Das hilft auch nicht, jemanden vom Weg in die USA abzuhalten.
G.S.: Nun ist mit dem Coronavirus die Lage noch einmal komplizierter für die Migrant*innen geworden. Was kommt danach?
V.S.: Viele Migrant*innen sitzen derzeit wegen der geschlossenen Grenzen innerhalb Zentralamerikas fest. Wir haben Kontakt zu mehreren Gruppen aus Nicaragua, aus der Karibik, sogar aus anderen Kontinenten, die in Panama, in Costa Rica, aber auch in Honduras, Nicaragua, Guatemala feststecken. Die Migration hat nicht aufgehört. Sie stockt nur. Das Thema Wirtschaft und Arbeit wird in Zentral- und Südamerika an Gewicht gewinnen. Im Moment können wir uns noch keine Vorstellung von den ökonomischen Auswirkungen in den Ländern machen. Staaten wie Guatemala, Honduras, El Salvador, die schon Probleme hatten, wurden ökonomisch hart getroffen. Die wenigen überhaupt vorhandenen Mittel sind für die Pandemie ausgegeben worden. Derzeit kann nicht abgeschätzt werden, wie gut sie eingesetzt wurden. Es ist zu früh zu sagen, dieses Geld wurde geraubt oder dieses Geld wurde vernünftig investiert. Sicher ist: Die Staaten werden die bevorstehende Arbeitskrise nicht stemmen können. Ich betone das, weil viele Arbeitsplätze verloren gegangen sind und diese Menschen werden nicht so schnell erneut Arbeit finden. Als Folge sehe ich neue irreguläre Migrant*innenwellen, neue Karawanen. Oder die gewöhnliche individuelle und familiäre Migration, aber in größerem Ausmaß. Wahrscheinlich werden sich nicht alle Richtung Mexiko oder USA wenden. Europa könnte ein verstärktes Ziel werden.