von Chrystine Mhanna* 11. November 2022
Während der Libanon eine der schlimmsten globalen Krisen und eine völlige Vernachlässigung der Menschenrechte erlebt, jagen die Familien der gewaltsam Verschwundenen noch immer einem Hoffnungsschimmer hinterher – so wie sie es seit 1997 tun. Es ist schwierig, Antworten auf die Frage des Verschwindenlassens von Personen im Libanon zu finden, wenn die Regierung es versäumt, auf grundlegende Bedürfnisse einzugehen.
Auch wenn die aktuelle Krise die Behandlung des Themas erschwert, warum konnten sich die Familien in der Vergangenheit nicht auf den rechtlichen Rahmen verlassen? Und was hat dazu geführt, dass Theorie und Praxis über die Jahre hinweg so weit auseinander lagen?
Haupthindernisse für die Familien der Verschwundenen
Während des libanesischen Bürgerkriegs zwischen 1975 und 1990 verschwanden mehr als 17.000 Libanesen, von denen Hunderte – die genaue Zahl ist unklar – bis heute gewaltsam verschwunden sind. Darüber hinaus verschwanden nach 1990 während der syrischen Militärpräsenz im Libanon zahlreiche Bürger und Palästinenser, von denen bekannt ist oder vermutet wird, dass sie in syrische Haftanstalten gebracht wurden. Nach ständigen Bemühungen von Aktivisten und zivilgesellschaftlichen Organisationen (CSO) unterzeichnete der Libanon 2007 das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen und verabschiedete 2018 das Gesetz (105) über vermisste und gewaltsam verschwundene Personen. Allerdings ist das Gesetz im theoretischen Rahmen geblieben, es wurde nicht umgesetzt und das Übereinkommen wurde nie ratifiziert.
Laut einer öffentlichen Erklärung des Libanesischen Zentrums für Menschenrechte (CLDH) ist der Verzicht auf die Ratifizierung des Übereinkommens eines der Haupthindernisse, mit denen die Familien konfrontiert sind. Zusätzlich sei die Untätigkeit der Nationalen Kommission für die Vermissten und gewaltsam Verschwundenen, die seit ihrer Gründung im Jahr 2020 untätig blieb, und das Versagen anderer offizieller Untersuchungskommissionen, eine ernsthafte Untersuchung des Schicksals der Verschwundenen durchzuführen, zu beanstanden, so das Zentrum.
Offizielle Verpflichtungen bestehen… wo sind sie jetzt?
Am 21. Januar 2000 wurde per Regierungsdekret, das von Premierminister Salim al-Huss unterzeichnet wurde, eine Untersuchungskommission für das Verschwindenlassen eingesetzt. Am 4. März 2014 erließ der libanesische Staatsrat eine historische Entscheidung, in der er erklärte, dass die Angehörigen von Verschwundenen das Recht haben, die Wahrheit über das Schicksal ihrer Familienmitglieder zu erfahren. Dazu gehört auch das Recht, eine vollständige Kopie der Akte mit den Ergebnissen der offiziellen Untersuchungskommission zu erhalten.
Eine zweite Kommission wurde 2001 per Ministerialerlass eingesetzt. Das Mandat dieser Kommission wurde zweimal verlängert und endete im Februar 2002. Eine dritte (gemeinsame libanesisch-syrische) Kommission wurde im August 2005 eingesetzt und ist immer noch “tätig”, obwohl laut einem Bericht des IKRK seit 2010 keine Sitzung mehr stattgefunden hat. In dem Bericht heißt es, dass trotz der Einrichtung von drei Kommissionen: „keine greifbaren Fortschritte gemacht wurden, um das Schicksal und den Verbleib der Vermissten zu klären oder den Bedürfnissen ihrer Familien gerecht zu werden“, und dass „das Fehlen von Ergebnissen und die Tatsache, dass die Kommissionen die wirklichen Sorgen der Familien nicht teilten, dazu führte, dass die Familien kein Vertrauen in diese Gremien hatten“.
Auch die Nationale Kommission für die Vermissten und gewaltsam Verschwundenen, die 2020 eingerichtet wurde, hat noch keine Angaben über den Verbleib der Verschwundenen und Vermissten gemacht. Vier Mitglieder der Kommission sind im vergangenen Jahr zurückgetreten, und als CLDH sich an sie wandte, um ihre Probleme zu verstehen, schrieb die Kommission zurück, dass dies eine interne Angelegenheit sei, die keine Einmischung von zivilgesellschaftlichen Organisationen erfordere. Bis heute hat die Regierung kein Budget für die Kommission bereitgestellt und keine Mitglieder als Ersatz für die zurückgetretenen ernannt. Wadih Al-Asmar, Vorsitzender des CLDH, erklärte: „Die Nationale Kommission ist gescheitert, weil es ihr an Erfahrung in diesem Bereich mangelt, weil der politische Wille fehlt und weil die Mitglieder nicht in der Lage sind, auf die politischen Parteien einzuwirken, auch da die meisten von ihnen durch politische Einflussnahme ernannt wurden. Sie können sogar ohne Budget arbeiten, es geht vielmehr um ihre Fähigkeit, zu arbeiten.”
Sind alternative Unterstützungsmaßnahmen ausreichend?
Abgesehen von der Untätigkeit offizieller Stellen sind zivilgesellschaftliche Organisationen wie das IKRK, der CLDH und das Komitee der Familien der Entführten und Verschwundenen seit 1997 im Kampf gegen das gewaltsame Verschwindenlassen und die Straflosigkeit aktiv. Im Jahr 1998 brachte SOLIDA/CLDH Familien von Verschwundenen nach Europa, wo die Existenz von Verschwundenen in Syrien zum ersten Mal bestätigt wurde. Im März 1998 wurden 121 libanesische Gefangene aufgrund von internationalem Druck und konsequenter Fürsprache aus syrischen Gefängnissen entlassen. Nach ihrer Freilassung erkannte der CLDH die Notwendigkeit, den Familien der gewaltsam Verschwundenen psychosoziale Unterstützung zukommen zu lassen, die später im Rahmen des Nassim-Rehabilitationszentrums geleistet wurde, das bis heute Folteropfer und Familien der gewaltsam Verschwundenen unterstützt.
Beratung, Unterstützung und Gedenken waren immer hilfreich, reichten aber angesichts der politischen Einmischung und Instabilität nicht aus. Der Präsident des CLDH unterstreicht dies: „Das Gedächtnis oder die Erinnerung ist nichts anderes als das Vehikel, um dieses Leiden zu verfolgen.“ Die Erinnerung an das Leid ist wichtig, aber unzureichend, wenn sie nicht von der Botschaft der Hoffnung begleitet wird, die darin besteht, Prozesse in Gang zu setzen, die es ermöglichen, den Opfern Antworten zu geben und ihnen die Rückkehr zu einer „normalen“ Existenz zu ermöglichen.
Bemühungen auf Eis gelegt
Seit der Verabschiedung des Gesetzes (105) im Jahr 2018 hat die Regierung das Problem des Verschwindenlassens auch angesichts der zahlreichen Krisen im Libanon, darunter der Aufstand im Oktober 2022, die Covid-19-Pandemie, die massive Explosion in Beirut und anderer politischer und wirtschaftlicher Instabilitäten, ignoriert.
Da der Libanon auf einen totalen Zusammenbruch zusteuert, stellt sich vor allem die Frage, ob die libanesische Regierung ihren Verpflichtungen zur Ratifizierung des Übereinkommens und zur Aktivierung der Rolle der Kommission durch transparente Ernennungen und Mechanismen jemals nachkommen wird. Heute ist das Recht auf Information für Hunderte von Familien nach wie vor von enormer Bedeutung, da es inmitten der Krisen des Landes und im Zusammenhang mit einem längst vergangenen Krieg nicht gewürdigt wird. Der Krieg ist zwar vorbei, aber die gebrochenen Seelen können nicht heilen, solange das Schicksal ihrer Angehörigen nicht geklärt ist.
1. Mena Rights Group, “Joint Call for Action to Address Enforced Disappearances and Impunity Across MENA”, August 30, 2021, vefügbar unter: https://menarights.org/en/articles/joint-call-action-address-enforced-disappearances-and-impunity-across-mena, abgerufen im Januar 2022.
* Chrystine Mhanna – Journalistin und Menschenrechtsaktivistin aus dem Libanon
Wandbild des IKRK in Beirut mit Hilfsangebot bei der Suche nach Verschwundenen, Foto: Rainer Huhle, Februar 2020
Angehörige von Verschwundenen demonstrieren für die Suche nach ihren Familien, Großleinwand in Beirut, Februar 2020.
Fotos © Rainer Huhle