Die Einrichtung von Kommissionen zur Suche nach verschwundenen Personen in Lateinamerika gilt weltweit als exemplarisch. Die von der GIZ in Auftrag gegebene Studie Comisiones de búsqueda en América Latina. Una apuesta extraordinaria por la integralidad en la investigación de las desapariciones untersucht die Arbeit der lateinamerikanischen Kommissionen zur Suche nach Verschwundenen in Mexiko, Kolumbien, Peru und El Salvador und die Herausforderungen, mit denen sich diese außerordentlichen Organe konfrontiert sehen, aus einer vergleichenden Perspektive.

von Kristina Stier, 14. Januar 2022

Einst gängige Praxis unter (lateinamerikanischen) Militärdiktaturen oder zu Zeiten interner bewaffneter Konflikte, kommt es in verschiedenen Ländern auch nach dem Ende dieser Konflikte und unter demokratischen Systemen zum systematischen Verschwindenlassen von Personen. Im Kontext von Migration, Menschenhandel und organisiertem Verbrechen haben sich neue Dynamiken des Verbrechens entwickelt. Sowohl fehlender politischer Wille und institutionelle Schwäche als auch die Komplexität des Verschwindenlassens selbst können als Ursachen für ausbleibende adäquate Antworten von Seiten der Staaten angesehen werden.

Die lateinamerikanischen Erfahrungen haben die Entwicklung internationaler Menschenrechts- und nationaler strafrechtliche Normen zur Bekämpfung gewaltsamen Verschwindenlassens entscheidend geprägt.

Wahrheit zu erfahren und Gerechtigkeit zu erlangen sind zwei zentrale Forderungen der Angehörigen von Verschwundenen und anderer Akteure, die sich ebenfalls dem Kampf gegen das gewaltsame Verschwindenlassen verschrieben haben und Familienangehörige unterstützen – wie Menschenrechtsaktivist*innen und Wissenschaftler*innen. Diese Forderungen spiegeln sich in zwei grundlegenden Verpflichtungen der Staaten wider: erstens, der Verpflichtung, das Verbrechen des Verschwindenlassens aufzuklären, die Verantwortlichen zu identifizieren und zur Rechenschaft zu ziehen – stets in Verbindung mit den politischen, institutionellen und sozioökonomischen Kontexten, die das gewaltsame Verschwindenlassen erst ermöglichten; und zweitens, der Verpflichtung, die vermissten Personen zu suchen und ihr Schicksal sowie ihren Aufenthaltsort zu ermitteln.

Die unzureichende Erfüllung dieser Pflichten von staatlicher Seite hat dazu geführt, dass die Betroffenen Lösungen außerhalb der regulären staatlichen Institutionen, die für Ermittlung und Strafverfolgung zuständig sind, gesucht und die Einrichtung spezialisierter Organe zur Suche nach den Verschwundenen gefordert haben. Die Einrichtung dieser „außerordentlichen“ Institutionen hat sich auf dem lateinamerikanischen Kontinent konsolidiert und gilt weltweit als exemplarisch.

Die Studie befasst sich mit den vier derzeit bestehenden außerordentlichen Organen zur Suche nach verschwundenen Personen (Suchkommissionen), in Lateinamerika: die Nationale Suchkommission (Comisión Nacional de Búsqueda, CNB) in Mexiko, deren Arbeit durch Suchkommissionen in den einzelnen mexikanischen Bundesstaaten ergänzt wird; die Einheit zur Suche von Personen, die im Zusammenhang mit und als Folge des bewaffneten Konflikts als vermisst gemeldet wurden (Unidad de Búsqueda de Personas dadas por Desaparecidas en el Contexto y en Razón del Conflicto Armado, UBPD) in Kolumbien; die Generaldirektion zur Suche von verschwundenen Personen im Justizministerium (Dirección General de Búsqueda de Personas Desaparecidas, DGBPD) in Peru; und die Nationale Kommission zur Suche von erwachsenen im Kontext des bewaffneten Konflikts verschwundenen Personen (Comisión Nacional de Búsqueda de Personas Adultas Desaparecidas en el Contexto del Conflicto Armado, CONABUSQUEDA) in El Salvador.

Die Kommissionen in Kolumbien, Peru und El Salvador entstanden in Post-Konflikt-Kontexten. Wie für Mechanismen der sogenannten Transitional Justice üblich, ist das Mandat dieser Kommissionen auf in der Vergangenheit liegende Zeiträume beschränkt – welche im Fall von El Salvador und Peru bereits Jahrzehnte zurückliegen. Die seit dem Jahr 2019 operierende mexikanische CNB hingegen ist die einzige Suchkommission, deren Mandat nicht auf einen vergangenen Zeitraum begrenzt ist, sondern die auch die Suche nach aktuellen Verschwundenen aufnimmt. Ausschlaggebend ist die im Land andauernde schwerwiegende Krise des Verschwindenlassens mit aktuell mehr als 95.000 offiziell als verschwunden geltenden Personen.

Große Herausforderungen für eine effektive Suche nach den Verschwundenen

Während die Konzentration von Ressourcen und Kompetenzen und ihre relative Autonomie gegenüber den regulären staatlichen Institutionen die effektive Arbeit der Kommissionen begünstigen können, sehen diese sich auch mit großen Herausforderungen konfrontiert.

Einbettung in umfassende Politikmaßnahmen und interinstitutionelle Kooperation

Eine Herausforderung stellt die bisher unzureichende Einbettung der Kommissionen in umfassende Politikmaßnahmen gegen das Verschwindenlassen von Personen dar. Eine solch adäquate Einbettung bedarf nicht nur der Zusammenarbeit zwischen denjenigen staatlichen Institutionen, die direkt mit der Suche von Verschwundenen befasst sind. Vielmehr geht es, wie die UN-Leitprinzipien zur Suche nach Verschwundenen festhalten, um die Kooperation aller Organe, die zur Wahrheitsfindung, Rechtsprechung und Wiedergutmachung beitragen. Neben den Justizbehörden zählen dazu u.a. auch militärische und polizeiliche Einheiten, die Gerichtsmedizin sowie Migrations- und Statistikbehörden und andere Institutionen, wie z.B. Wahrheitskommissionen. Als besonders herausfordernd erweist sich die Zusammenarbeit der Suchkommissionen mit den Justizbehörden – insbesondere den Staatsanwaltschaften, in denen in der Regel bereits Einheiten zur Suche nach verschwundenen Personen bestehen, die aber meist schlecht funktionieren.

Interaktion mit Angehörigen und der Zivilgesellschaft

Als außerordentliche, außergerichtliche Organe können sich die Kommissionen auf die Suche nach Verschwunden konzentrieren und dabei ihre – im Vergleich zu den regulären staatlichen Institutionen – größere Autonomie nutzen, um notwendige Priorisierungsstrategien bei den Suchprozessen zu entwickeln. Autonomie und Flexibilität ermöglichen auch eine bessere Interaktion mit den Angehörigen von Verschwundenen und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Durch die aktive Teilhabe der Familien können Räume für Dialog und Anerkennung geschaffen und die oft langjährige Erfahrung und Expertise von Angehörigen und zivilgesellschaftlichen Organisation bei der Suche nach Verschwundenen eingebracht werden. Grundlegend ist aber auch, dass die Familienangehörigen Zugang zu transparenten Informationen zum Suchprozess, insbesondere auch in Bezug auf notwendige Priorisierungsstrategien und die Grenzen der Arbeit der Kommissionen, erhalten.

Nutzung adäquater Technologien und Datenbanken

Eine weitere zentrale Herausforderung stellt neben dem Bedarf an höherer technologischer und Wissensausstattung im forensischen Bereich auch der Mangel an integrierten und sich stetig aktualisierenden Informationssystemen dar. Die Tatsache, dass die verschiedenen Institutionen eigene Mechanismen der Dokumentation – einschließlich Datenbanken – entwickeln und nutzen, behindert den Informationsfluss. Während dies insbesondere in Bezug auf Staatsanwaltschaften und Suchkommissionen problematisch ist, kommt hinzu, dass andere Register, zum Beispiel von Krankenhäusern oder Friedhöfen, oft nicht vollständig oder gar digitalisiert sind. Im Hinblick auf Verschwindenlassen im Kontext von Migration ist zudem der mangelnde transnationale Informations- und Datenaustausch problematisch. Keine der Suchkommissionen konnte eine derartige effektive Zusammenarbeit bisher gewährleisten.

Neue Narrative und langfristige Auswirkungen

Die Arbeit der Kommissionen wird in der Regel daran bemessen, welche Ergebnisse sie bei Suche und Identifizierung von Körpern oder sterblichen Überresten erzielen – oft unbeachtet der Tatsache, dass die Identifizierung nicht Aufgabe der Suchorgane selbst, sondern der rechtsmedizinischen Institutionen ist. Andere Auswirkungen der Arbeit der Kommissionen sind auf den ersten Blick weniger leicht zu fassen, können jedoch tiefgreifende Transformationsprozesse in einer Gesellschaft anstoßen. Dazu zählen Narrative und Kommunikations-, Informations- und Sensibilisierungskampagnen, in denen das Verschwindenlassen von Personen als anerkanntes Verbrechen behandelt wird und juristische und humanitäre Folgen in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Langfristig kann die Arbeit der Kommissionen nicht nur zur Wahrheitsfindung sowie dazu, eine kollektive Erinnerung zu schaffen und das Sozialgefüge in einer Gesellschaft wiederherzustellen, beitragen, sondern auch zur immateriellen Wiedergutmachung und Nicht-Wiederholung der Verbrechen. So kann Vertrauen der Gesellschaft in die Politikmaßnahmen gegen gewaltsames Verschwindenlassen geschaffen und ein Beitrag dazu geleistet werden, auch das Vertrauen in den Staat selbst wiederherzustellen.

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