AM 6. UND 7. NOVEMBER 1985
UND DAS BUCH MI VIDA Y EL PALACIO

Der diesjährige 6. und 7. November ist der 35. Jahrestag der Besetzung des Justizpalastes durch die Guerilla M-19 in Kolumbien und der anschließenden Rückeroberung durch die nationalen Streitkräfte. Dabei verloren 1985 ca. 100 Menschen ihr Leben und 11 weitere wurden verschwunden gelassen. Dieses wenig ruhmreiche Kapitel stellt einen Wendepunkt in der Geschichte des Landes dar.

Helena Uran Bidegain 30.  November 2020  |   Übersetzerin: Annegret Krüger

Die M-19 war eine von den städtischen Guerillas der Region des südlichen Lateinamerikas, insbesondere den uruguayischen Tupamaros, inspirierte Guerillabewegung, die als Reaktion auf eine Reihe von Ereignissen im Zusammenhang mit dem Betrug bei den Wahlen am 19. April 1970 entstanden war. Daher kommt der Name „Movimiento 19 de abril“ (Bewegung 19. April), abgekürzt M-19.

1985 war die Guerillabewegung M-19 im ganzen Land bekannt, nicht nur wegen des Diebstahls von Milchwagen, von denen aus Milch an die ärmsten Viertel verteilt wurde, was bei einigen Teilen der Bevölkerung Sympathie auslöste. Die Guerilla erlangte vor allem Bekanntheit durch ihre medialen und sehr spektakulären Angriffe, wie den Diebstahl des Schwertes von Bolivar, unter dem Slogan: „Bolivar, dein Schwert kehrt zurück, um zu kämpfen“ und „mit Waffen, mit dem Volk, an die Macht“. Auch der Diebstahl von 5000 Waffen aus der wichtigen Militärgarnison Cantón Norte in Bogotá durch einen Tunnel oder die Besetzung der Botschaft der Dominikanischen Republik, in der sich viele Diplomaten aufhielten, darunter der US-Botschafter, was die Regierung in diesem Fall dazu zwang, mit der Guerilla zu verhandeln, indem sie ihr eine Million Dollar gab und den Kommandanten der Besetzung erlaubte, nach Kuba auszureisen, trugen zur Bekanntheit bei.

All diese Coups von großer medialer und gesellschaftlicher Wirkung hatten dazu geführt, dass sich die Streitkräfte als Institution gedemütigt fühlten und diese Guerillagruppe besonders erbittert bekämpften. Sie warteten begierig auf den Augenblick, um sich zu rächen und ihre verwundete Ehre wiederzuerlangen.

Ein Jahr vor der Besetzung des Justizpalastes, 1984, hat die damalige Regierung unter der Führung von Präsident Belisario Betancur Friedensabkommen mit mehreren Guerillagruppen, wie den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) oder der M-19, unterzeichnet und diese nicht mehr als illegale bewaffnete Gruppen, sondern als politische Akteure anerkannt. Es war ein Plan, der nicht nur sehr ehrgeizig war, sondern auch viele Feinde hatte, der sogar innerhalb der Regierung selbst, und von den Streitkräften für einen Fehler gehalten wurde, die Krieg als die einzig mögliche Option zur Erreichung des Friedens ansahen.

Im Jahr 1985, ein Jahr nach dem Abkommen, fühlte sich die Guerillagruppe M-19 verraten, da ihre Stützpunkte von der kolumbianischen Armee angegriffen worden waren, und in den ersten Monaten des Jahres 1985 hatte der bewaffnete Konflikt neue Opfer unter ihren Anführern gefordert. Die Guerilla war daher der Ansicht, dass die Regierung sich nicht an das Abkommen gehalten habe. Die Armee wiederum beschuldigte die Guerilla, weiter Terrorakte zu begehen. Wochen vor dem Angriff auf den Justizpalast am 6. und 7. November 1985 hatte die M-19 einen Anschlag auf das Leben des Kommandeurs der Nationalen Armee verübt. Der Kommandeur blieb unverletzt, aber die Tat stieß auf große Ablehnung bei den Streitkräften.

Angesichts dieser Vorgeschichte beschloss ein Guerilla-Kommandeur am Morgen des 6. November 1985 den Sitz der obersten Gerichtshöfe des Landes zu besetzen mit der absurden Idee, die Richter als Geiseln zu nehmen, um sie zu einem Prozess gegen Präsident Belisario Betancur und seine Regierung wegen politischer Verantwortung für die Nichteinhaltung der im Vorjahr getroffenen Vereinbarungen zu zwingen. Die Guerilla glaubte, dass mit dieser Aktion das ganze Land und der Rest der Welt den Verrat erkennen und sie damit als die wahren Verteidiger des Gemeinwohls bestätigen würde.

Die Besetzung und Rückeroberung des Justizpalasts

Wenige Minuten, nachdem das 30-köpfige Guerillakommando am 6. November den Justizpalast betreten hatte, hatte die Armee bereits das gesamte Gebäude mit Scharfschützen, Panzern, Hubschraubern und Soldaten umzingelt, die strategisch an verschiedenen Ecken und Dächern rund um das Gebäude auf dem Plaza de Bolívar in Bogotá platziert waren. Das Gebiet war vollständig abgeriegelt und alles, was sich dort bewegte, wurde zu jeder Zeit von den öffentlichen Streitkräften kontrolliert. Mehr als 3.500 Angehörige der öffentlichen Streitkräfte waren an der Rückeroberung beteiligt.

Bis heute stellt sich die Frage, warum genau an diesem Tag die Sicherheitsvorkehrungen am Eingang zum Justizpalast aufgehoben wurden, so dass die Guerillagruppe. ungehindert das Gebäude betreten konnte, da sie lediglich auf zwei private Wachleute traf, die nicht in der Lage waren, auf einen Angriff dieser Größenordnung zu reagieren. Die beiden Wachleute wurden von den Guerillas auf der Stelle getötet.

Die Richter, das Gebäudepersonal und zufällige Besucher gerieten dann zwischen die beiden bewaffneten Fronten. Die Armee schoss 27 Stunden lang auf und in das Gebäude, obwohl sie wusste, dass sich viele unschuldige Menschen darin aufhielten. Auch die Guerilla ihrerseits hat nie die Entscheidung getroffen, sich zu ergeben, obwohl innerhalb weniger Stunden nach der Besetzung sehr deutlich wurde, dass ihre militärische und politische Strategie ein völliger Misserfolg war. Weder die beiden bewaffneten Gruppen noch die Regierung kümmerte das Leben der Zivilisten. Die Regierung weigerte sich zu verhandeln und überließ die Richter ihrem Schicksal.

Während Kriegspanzer auf das Gebäude schossen und das Feuer alles verzehrte, zensierte das Kommunikationsministerium die Live-Übertragung der Geschehnisse im Zentrum der Hauptstadt des Landes und die Medien gehorchten brav. In der Nacht vom 6. November, als im Herzen des Landes eine blutige Schlacht tobte, übertrug das Fernsehen ein unbedeutendes Fußballspiel, um alles zu verbergen. Das war der Geist, der seitdem in Bezug auf die Ereignisse im Palast im Land geblieben ist.

Die Medien haben die wirklichen Tatsachen verzerrt und es geschafft, die offizielle Version durchzusetzen: die der Helden des Vaterlandes, die die Institutionen aus den Händen der mit dem Drogenhandel verbündeten Guerilla gerettet haben, was immer wieder so dargestellt wird, sogar in populären Netflix-Serien, die der Figur der Drogenhändler schmeicheln, oder sogar in deutsch-französischen Fernsehdokumentationen wie auf Arte. Diese Version hat es dem Land bis heute unmöglich gemacht, die Wahrheit der Begebenheiten in all ihren Dimensionen zu erfahren.

An diesen schicksalhaften Tagen des 6. und 7. November trugen nicht nur die Armee und die Exekutive direkte Verantwortung für die begangenen Exzesse und Verbrechen, sondern auch das Institut für Rechtsmedizin, das Leichen entgegennahm, die später wieder verschwanden, die Passivität des Roten Kreuzes, das Schweigen des Kongresses der Republik und die Staatsanwaltschaft, die zeitweise ermittelt hat, dank derer wir zumindest ein wenig in Erfahrung bringen konnten, aber fast immer widerwillig, verspätet und mit Interventionen der Generalstaatsanwaltschaft, die mutige Menschen wie die Staatsanwältin Ángela María Buitrago von ihren Ermittlungen abgehalten hat.

Die Art und Weise, wie mit dieser Tragödie und der vorausgegangenen Straffreiheit im Fall des Justizpalastes umgegangen wurde, legte den Grundstein für die grausamsten Verbrechen, die in den nächsten 35 Jahren im ganzen Land begangen werden sollten. Wenn so etwas in der Hauptstadt des Landes gegen das wichtigste Gericht des Landes geschehen konnte, was sollte man dann in entlegenen Ecken erwarten, wo überhaupt keine staatliche Präsenz herrschte und weiterhin keine besteht? Tausende von Massakern, Tausende von Ermordeten sollten zeigen, dass Kolumbien die Gerechtigkeit in den Händen von bewaffneten Gruppen, sowohl legalen als auch illegalen, zerstört werden konnte.

Die Zivilgesellschaft, die sich in Auflösung befand, war gelähmt und akzeptierte den Schweigepakt. Es gab einige vereinzelte Stimmen, die nach Erklärungen verlangten, aber sie wurden schnell zum Schweigen gebracht, stigmatisiert oder direkt vernichtet.

Es sei daran erinnert, dass das Gericht zum Zeitpunkt der Besetzung des Justizpalastes ein Gericht war, das die Achtung der Bürger- und Menschenrechte zu gewährleisten suchte und von Kriminellen Rechenschaft verlangte. Deshalb wurde es von der kriminellen Macht, den Korrupten und sogar von einem Teil des Establishments, das vom Krieg profitiert hatte, argwöhnisch betrachtet. Zu den größten Feinden des Gerichts gehörten Drogenkartelle und der Armee nahestehende Personen, die das Gericht als Marionette des Kommunismus beschuldigten. Richter erhielten häufig Morddrohungen von allen Seiten, weil sie ihre Arbeit machten und Gerechtigkeit suchten.

Nach den Ereignissen vom November 1985 argumentierte die Exekutive, dass sie diese Leben opfern musste, um die Justiz und die Institutionen zu retten, denn eine Verhandlung mit der Guerilla hätte bedeutet, den illegalen Apparaten im Herzen der kolumbianischen Institutionen Legitimität zu verleihen. Die Ironie und Unmenschlichkeit dieses Opfers, das von Menschen erbracht wurde, die die Rechtsstaatlichkeit verteidigten, ist offensichtlich. Der Staat war nicht da, um das Recht zu schützen, sondern hat es aufgegeben. Heute, 35 Jahre später, können wir feststellen, dass die Fäden, die aus den Ereignissen der Besetzung und Rückeroberung des Justizpalastes am 6. und 7. November hervorgegangen sind, noch immer intakt sind und diejenigen, die den Rechtsstaat verteidigen, weiterhin verfolgt und ermordet werden. Bislang wurden in diesem Jahr fast 250 soziale Führer, Menschen, die für Menschen- und Umweltrechte gekämpft hatten, und sogar einige ihrer Angehörigen hingerichtet, ohne dass eine ernsthafte Untersuchung stattgefunden hätte. Auch sie sind, wie die Richter, die sich 1985 bei der Besetzung im Justizpalast aufhielten, vom Staat im Stich gelassen worden.

Der Fall des Richters Carlos Horacio Uran

Carlos Horacio Uran war zur Zeit des Angriffs auf den Justizpalast ein junger Richter, Professor, Forscher und mein Vater. Er hatte Artikel und Bücher über das Verhältnis der Streitkräfte und ihr Bündnis mit der politischen Macht in Kolumbien veröffentlicht. Er kritisierte offen die Tatsache, dass die Armee im Dienst fremder Mächte stehe. Wie viele andere Richter auch stellte er den hohen Grad der Militarisierung des Landes in Frage und hatte den Staat in der Vergangenheit wegen Fällen von Folter verurteilt.

Wir erfuhren 22 Jahre nach den Ereignissen, dass es meinem Vater gelungen war, das Gebäude lebend zu verlassen, entgegen der offiziellen Version, die behauptete, er sei im Kampf durch eine verirrte Kugel tödlich verwundet worden. Es wurde nachgewiesen, dass Richter Carlos Horacio Uran entführt, von der kolumbianischen Armee gefoltert und dann hingerichtet wurde. Schon lange wurde er wegen seiner Arbeit verfolgt. Die Armee nutzte die Rückeroberung des Justizgebäudes, um unbequeme Stimmen wie die seine loszuwerden, und beseitigte den Tatort, um das ganze Land darüber zu täuschen, was wirklich geschehen war.

Mein Leben und der Palast

Heute, 35 Jahre nach den Geschehnissen, veröffentliche ich das Buch „Mi Vida y El Palacio“ (Mein Leben und der Palast) (Planeta, Colección Memoria Colombia, 2020). Dies ist eine Erklärung der Ereignisse, die sich im Palast abgespielt haben, aber auch eine Möglichkeit, mich meiner eigenen Geschichte mit Würde zu nähern. Durch umfangreiche Recherchen und in einem autobiographischen Bericht erzähle ich diese Geschichte der politischen Gewalt, der Überwindung der Vergangenheit und der Erinnerungspolitik in Kolumbien.

Die Erzählung beginnt am Morgen des 6. November. Ich schildere unser Familienleben mit einem ominösen Verbrechen auf den Schultern, das Exil aufgrund von Drohungen, das Verschwinden von Geiseln und Guerillas nach Beendigung der Kämpfe und Jahrzehnte der Straflosigkeit.

Durch meine Geschichte kann der Leser verstehen, wie Staatsverbrechen und die organisierte Lüge über den Tod meines Vaters funktionierten, was es für mich und meine Familie bedeutete, mit einer Geschichte ungelöster politischer Gewalt ins Exil (Uruguay, Spanien, USA) gehen zu müssen. Ich beschreibe den Weg, den wir mit den anschließenden Gerichtsverfahren gehen mussten, die Bedeutung der grassierenden Straflosigkeit für uns, die Bedeutung des IACHR-Urteils (Interamerikanischer Menschenrechtsgerichtshof), obwohl es vom kolumbianischen Staat noch nicht vollstreckt wurde, und den Prozess der Transformation und Bewusstseinsbildung in Deutschland.

Der Fall des Justizpalastes, vor allem aber konkret das Verschwindenlassen, die Folter und die Hinrichtung des Richters Uran, ist sinnbildlich für das Verständnis, wie die Staatskriminalität in Kolumbien funktioniert und warum Kolumbien durch die Beibehaltung einer Politik der Unterlassung und Leugnung statt der Konfrontation mit der Wahrheit zu ewigem Krieg und wiederholten gescheiterten Friedensprozessen verurteilt scheint.

 

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