von Silke Voß-Kyeck, 18. Februar 2022
Ein wesentliches Merkmal des gewaltsamen Verschwindenlassens ist es, dass die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Diese – oft strukturelle – Straflosigkeit verstärkt nicht nur das Leid der Opfer, sie ist auch ein zentrales Problem bei der Bekämpfung und Prävention dieser schweren Menschenrechtsverletzung. Angesichts des Unvermögens oder der Unwilligkeit nationaler Justizsysteme, die Täter*innen zu ermitteln und strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, bleibt den Opfern oftmals nur, sich zwischen „Wahrheit oder Gerechtigkeit“ zu entscheiden. Denn wenn sie beides verlangen, fürchten Täter*innen bestraft zu werden und Opfer werden entsprechend noch mehr zur Zielscheibe von Repressionen.
Die UN Arbeitsgruppe gegen das gewaltsame oder unfreiwillige Verschwindenlassen (WGEID) veröffentlichte im August 2020 einen Bericht zu „Standards und staatlichen Richtlinien für eine wirksame Untersuchung von Fällen des Verschwindenlassens“, der jetzt auch auf Deutsch vorliegt. Dieser Bericht macht deutlich, was zur Straflosigkeit beiträgt bzw. was staatliche Institutionen davon abhält zu ermitteln: Amnestien, mangelnde Unabhängigkeit der untersuchenden Autoritäten, unzureichende Straftatbestände, unsachgemäße Verjährungsfristen, Repressionen gegen Angehörige, fehlende Kompetenzen und Kapazitäten, und weiteres. Zugleich wird detailliert ausgeführt, dass es wirksame Untersuchungen von Fällen des Verschwindenlassen braucht, um Straflosigkeit nachhaltig zu bekämpfen. Hierfür erforderlich sind unter anderem Ermittlungen von Amts wegen (ex officio), zeitnahe Haftprüfungen, Zugang zu Informationen, das Verbot von Amnestien und Begnadigungen, Unabhängigkeit der mit den Ermittlungen beauftragten Behörden, Straftatbestände und Verjährungsfristen im Sinne der Konvention gegen das Verschwindenlassen, koordiniertes Vorgehen von Behörden, Einbindung der Opfer und deren Schutz vor Repressionen ebenso wie vor Retraumatisierung, forensische Expertise, Sicherung von Archiven, und weitere Maßnahmen.
Der Bericht betont außerdem, dass es gerade nicht um Wahrheit oder Gerechtigkeit geht. Die strafrechtlichen Ermittlungen gegen die Täter*innen und die Suche nach den Opfern und Aufklärung ihres Schicksals sollen und müssen sich gegenseitig bedingen. Dementsprechend ist der Bericht der Arbeitsgruppe ausdrücklich komplementär zu verstehen zu den „Leitprinzipen für die Suche nach verschwundenen Personen“, die 2019 vom Ausschuss gegen das Verschwindenlassen veröffentlicht wurden.