Journalist:innen, die über das Verschwindenlassen berichten, stehen vor vielen Herausforderungen und sind Gefahren ausgesetzt. Marcela Turati aus Mexiko kennt diese Gefahren nur zu gut. Während ihres Besuchs in Deutschland im Mai 2023 sprach sie über ihre Arbeit und die Risiken für Medienschaffende in Mexiko. Turati ist Mitgründerin der Webseite „A dónde van los desaparecidos“, die sich ausschließlich mit dem Verschwindenlassen in Mexiko befasst: https://adondevanlosdesaparecidos.org/.
von Kristina Stier 16. Juni 2023
„Wir wollten den Journalismus nicht den Schreckensmeldungen überlassen, sondern aus einer Menschenrechtsperspektive heraus berichten. Die Menschen haben sich an die Verschwundenen gewöhnt. Wir haben uns also gefragt, wie wir diese Geschichten so erzählen können, dass sie Interesse wecken und wir den Verschwundenen ihre Geschichte wiedergeben“ berichtete Marcela Turati in einem Interview im Jahr 2022. Sie ist mexikanische Journalistin sowie Mitbegründerin der investigativen Recherche-Plattform Quinto Elemento Lab, einer Partnerorganisation von Brot für die Welt. Dort koordiniert sie aktuell den Aufbau eines Journalist:innennetzwerks zum Thema Verschwindenlassen.
Turati recherchiert seit vielen Jahren über die Opfer und Hintergründe des sogenannten Drogenkriegs in Mexiko. Das Land befindet sich seit Jahren in einer schweren Menschenrechtskrise. Besonders deutlich wird das angesichts der Zahl der mehr als 110.000 offiziell erfassten Verschwundenen, wobei von deutlich höheren Dunkelzahlen ausgegangen wird.
Turati erhält Theodor Heuss Medaille
Für „ihr mutiges demokratiepolitisches Engagement und ihre faktenreichen und gewissenhaft recherchierten Berichte über verschwundene Personen“ wurde Marcela Turati am 13. Mai in Stuttgart die Theodor Heuss Medaille verliehen. Anlässlich ihres damit verbundenen Deutschlandbesuchs luden die Heinrich-Böll-Stiftung, Brot für die Welt, die Deutsche Menschenrechtskoordination Mexiko und die Lateinamerika Gruppe Berlin von Amnesty International am 10.5.2023 zur Veranstaltung „Presse unter Beschuss – Strategien mexikanischer Journalist:innen im Kontext tödlicher Gewalt“ ein. Gemeinsam mit der Journalistin diskutierten an diesem Abend auch Christian Mihr, Geschäftsführer der deutschen Sektion von Reporter ohne Grenzen (RSF), und der Bundestagsabgeordnete Max Lucks.
Seit 2000 wurden in Mexiko etwa 150 Journalistinnen und Journalisten ermordet, davon mindestens elf im letzten Jahr, so RSF – damit ist Mexiko das gefährlichste Land der Welt für Reporter:innen außerhalb von Kriegsgebieten. Mindestens 28 Journalist:innen sind zudem verschwunden. Wer zu organisierter Kriminalität oder staatlicher Korruption recherchiert, muss mit Schikane, Überwachung und Drohungen rechnen und bezahlt mitunter mit dem eigenen Leben. Lokaljournalist:innen sind besonders gefährdet.
Hoffnung auf Verbesserung der Menschenrechtslage enttäuscht
Für viele Mexikaner:innen war die Wahl von Andrés Manuel López Obrador (kurz AMLO) zum Präsidenten im Jahr 2018 mit Hoffnung auf eine Politik verbunden, die für ökonomische Umverteilung sorgt, der grassierenden Korruption und Straflosigkeit etwas entgegensetzt sowie Menschenrechten und Pressefreiheit einen Aufschwung verleiht. Fünf Jahre später ist – trotz einiger zentraler Reformen – die Menschenrechtslage nach wie vor katastrophal. Die Militarisierung der öffentlichen Sicherheit hat sich entgegen zuvor gegebener Versprechen sogar noch verschärft. Verbale Angriffe auf Medienschaffende sind an der Tagesordnung. Vor allen in seinen morgendlichen Presserunden, den „mañaneras“, diskreditiert der Präsident regelmäßig Journalist:innen, vor allem diejenigen, die sich regierungskritisch äußern oder unbequeme Fragen stellen. Ein solches Narrativ, in dem Journalist:innen regelmäßig der Verbreitung von Lügen bezichtigt werden, trage zur Normalisierung der Gewalt gegen diese bei, erklärte Marcela Turati eindrücklich.
Zu den Bedrohungen kommen die prekären Arbeitsbedingungen. Im Falle von Bedrohungen erfahren Medienschaffende aus den eigenen Medienhäusern oft keine Unterstützung – immer wieder kommt es sogar vor, dass die Bedrohten entlassen werden. Journalistinnen sind einem noch höheren Risiko ausgesetzt als ihre männlichen Kollegen. Die Drohungen und die Gewalt gegen sie sind oft geschlechtsspezifisch, Bedrohungen von Familienangehörigen kommen besonders häufig zum Einsatz.
Der Staat schützt nicht
Obgleich ein staatlicher Schutzmechanismus für Journalist:innen existiert, funktioniert er in der Praxis kaum. Die finanziell und personell unzureichende Ausstattung des Mechanismus sind grundlegende Kritikpunkte. Immer wieder gibt es Meldungen, dass Reporter:innen, die sich im Schutzprogramm befanden, ermordet wurden. Oft verlasse man sich auf die lokale Polizei, die in vielen Fällen jedoch Teil des korrupten Apparats sei, so Christian Mihr.
Straflosigkeit ist Pistole ohne Sicherung
Die enge Verstrickung von Politik, Justiz und organisiertem Verbrechen führt dazu, dass die Straflosigkeit für die Gewalt gegen Journalist:innen fast absolut ist. Während weltweit laut UNESCO rund 75% aller Verbrechen gegen Journalist:innen straflos bleiben, sind es in Mexiko zwischen 95% und 98%. „Die vorherrschende Straflosigkeit ist eine Einladung dazu, weiterhin Medienschaffende zu ermorden. Sie ist eine Pistole ohne Sicherung, die dazu einlädt, sie immer wieder zu benutzen“, argumentierte Marcela Turati.
Strategische Prozessführung
Trotz dieser Bedingungen ist es RSF gelungen, gemeinsam mit der NRO Propuesta Cívica, mit der auch Brot für die Welt eng zusammenarbeitet, spezifische Klagen voranzutreiben und in einigen Fällen – wie die der ermordeten Journalist:innen Miroslava Breach und Javier Valdez – Verurteilungen zu erwirken. Christian Mihr erklärte, dass das Zusammenwirken der kritischen Öffentlichkeit auf nationaler und internationaler Ebene dafür maßgeblich verantwortlich sei. Gleichzeitig zielt RSF darauf ab, die Nutzung des Völkerstrafrechts als Schutzinstrument für Pressefreiheit zu stärken. Hier komme Deutschland künftig noch eine zentralere Bedeutung zu, so Mihr.
Auch gegen die Nutzung der Spähsoftware Pegasus ist die Organisation juristisch unterwegs. In keinem anderen Land sind so viele Journalist:innen zu Ausspähzielen durch staatliche Stellen geworden, wie in Mexiko – unter ihnen auch Marcela Turati, gegen die zudem wegen ihrer Recherchen zu Massakern an Migrant:innen in Nordmexiko ermittelt wird.
Mit den Regeln des Journalismus brechen
Angesichts der Straflosigkeit und des fehlenden Schutzes von staatlicher Seite sei es nötig „mit den Regeln des Journalismus zu brechen“, erklärte Marcela Turati. Konkret bedeute das, bisweilen ohne den eigenen Namen zu publizieren, verstärkt auf die Arbeit im Kollektiv zu setzen und Sicherheitsprotokolle für die Arbeit im Feld zu etablieren. Das von Marcela Turati und Quinto Elemento Lab ins Leben gerufene Netzwerk von Journalist:innen, die über das systematische Verschwindenlassen von Personen recherchieren und veröffentlichen, schafft nicht nur Räume für gemeinsame Recherchen und Möglichkeiten, Veröffentlichungen zu begleiten. Zunehmend spielen auch die Selbstfürsorge und der Umgang mit Angriffen auf die digitale, physische und emotionale Sicherheit eine zentrale Rolle sowie die Weitervermittlung von Strategien zum Umgang mit den Angriffen an andere Journalist:innen, insbesondere auch in lokalen Kontexten. Es sind vor allem Frauen, die diese Vernetzung vorantreiben und federführende Rollen einnehmen.
Verantwortung auch hier in Europa und Deutschland
Deutschland ist innerhalb der EU Mexikos wichtigster Handelspartner. Aktuell drängt Deutschland darauf, den „modernisierten“ Handelsteil des seit dem Jahr 2000 gültigen Globalabkommens zwischen der EU und Mexiko abzuschließen. Das Globalabkommen enthält zudem einen Teil zu politischem Dialog und Kooperation, der jedoch von der Überarbeitung ausgenommen war. Ausreichende Schutzmechanismen für Klima und Umwelt, aber auch Arbeits- und Menschenrechte sind daher weiterhin nicht verankert; die bereits im ursprünglichen Abkommen enthaltene Menschenrechtsklausel (die theoretisch zu teilweiser oder vollständiger Aussetzung des Abkommens führen kann) wurde trotz schwerster Menschenrechtsverletzungen bisher nie angewendet und war auch nicht Gegenstand der Überarbeitung des Abkommens. Mit den Zielen einer wertegeleiteten und dezidiert auch feministischen Außenpolitik, wie sie sich die Bundesregierung auf die Fahne geschrieben hat, ist diese Haltung keinesfalls vereinbar.
Für Max Lucks, unter anderem Obmann im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, ist es neben dem Druck von zivilgesellschaftlicher Seite insbesondere zentral, dass auch der Bundestag hier genau hinschaue. Zudem müsse der Fokus in der Außenwirtschaftspolitik gegenüber Mexiko stärker auch auf die Wirtschaftsbeziehungen im Rahmen der organisierten Kriminalität und deren Bekämpfung gelegt und dies auch im Rahmen der Verhandlungen zum Globalabkommen verstärkt thematisiert werden.
Als Mitglied der Deutsch-Mexikanischen Parlamentariergruppe sieht er es als seine Aufgabe an, ein Gegengewicht zu den wirtschaftlichen Prioritäten, die in der Arbeit der Parlamentariergruppen oft bestehen, zu schaffen und gezielt die Menschenrechte in den Blick zu nehmen. Zur besseren Unterstützung von Medienschaffenden in Zeiten zunehmend eingeschränkter zivilgesellschaftlicher Handlungsspielräume sei es auch wichtig, dass Pilotinstrumente wie die Hannah-Arendt-Initiative (Netzwerk zum Schutz von Journalist:innen und Medienschaffenden) auf weitere Regionen – darunter Lateinamerika – ausgeweitet würden. Dahingehend zeigte sich Lucks optimistisch. Um in der Außenpolitik Menschenrechtsfragen einen höheren Stellenwert einzuräumen, müssten schließlich auch die Räume, die Expert:innen wie Marcela Turati gegeben werden, stark erweitert werden.
Die Veranstaltung wurde aufgezeichnet und ist hier verfügbar: Deutsch/Spanisch