Anfang Juni 2024 gab der chilenische Präsident Gabriel Boric sein Vorhaben bekannt, Teile des Grundstücks der ehemaligen Colonia Dignidad, heute „Villa Baviera“, im Süden Chiles zu enteignen. Ziel der Enteignung ist es, an dem Ort eine Gedenkstätte und ein Dokumentationszentrum zu errichten, um an die Opfer der von dem deutschen Paul Schäfer gegründeten Sekte und der Diktatur von Augusto Pinochet zu erinnern. Seit 2017 gibt es eine chilenisch-deutsche Regierungskommission zur Aufarbeitung der Colonia Dignidad. Doch wie bereits in diesem Newsletter berichtet, wurden die Forderungen nach einer Erinnerungsstätte bisher nicht umgesetzt.

Bei einem Besuch von Präsident Boric in Berlin am 10. Juni 2024 versicherte Bundeskanzler Olaf Scholz, Deutschland unterstütze die Teilenteignung des Geländes von „Villa Baviera“, um dort eine Gedenkstätte und ein Dokumentationszentrum zu errichten.

Hintergrund:

Der Pädokriminelle Paul Schäfer gründete in den 1960er Jahren die Colonia Dignidad („Kolonie der Würde“) im Süden Chiles. Schäfer, Reinhard Döring, Kurt Schnellenkamp, der Arzt Hartmut Hopp und weitere Unterstützer*innen bauten auf dem 17.000 ha großen Landgut eine abgeschottete Siedlung auf und zwangen die Bewohner*innen zu schwerster Arbeit ohne Lohn. Eine Vielzahl von Jungen wurden insbesondere von Schäfer vergewaltigt und sexuell missbraucht. Nach dem Putsch von Augusto Pinochet arbeitete die Sektenführung eng mit dem Diktator zusammen. Während der Pinochet Diktatur (1973-1990) wurden auf dem Gelände der Sekte Regimegegner gefoltert und ermordet. Bis heute sind Opfer, die auf dem Gelände gefangen gehalten wurden, verschwunden. Es ist auch nicht geklärt, wie viele Personen es sich handelt.

Am 1. Juni kündigte Präsident Boric ferner an, eine Arbeitsgruppe zu schaffen, um Zwangsadoptionen in Chile vor 1990 zu untersuchen. Während der Diktatur von Augusto Pinochet waren tausende von Neugeborenen und Kleinkindern illegal zur Adoption ins Ausland gegeben worden, vor allem in den USA und in Europa. Die meisten dieser Fälle sind nie aufgeklärt worden, da die Regierung sich bemühte, jegliche Hinweise auf die wirkliche Identität der Kinder zu zerstören. Bei einem Besuch in Schweden Mitte Juni, unterschrieben Präsident Boric und der Premierminister Schwedens Ulf Kristersson einen Kooperationsvertrag, um die Zwangsadoptionen zu untersuchen.

Einen Monat später, am 1. Juli, reichte der chilenisch-amerikanische Marinesoldat Jimmy Thyden González, der kurz nach seiner Geburt vor 42 Jahren von seiner Mutter getrennt worden war, eine Klage wegen Kindesentführung gegen den chilenischen Staat ein. Es handelt sich nicht um die erste gerichtliche Beschwerde dieser Art. Das Besondere an der Klage ist, dass sie den systematischen Charakter der Zwangsadoptionen umfasst.

Weitere Hintergründe zu Zwangsadoptionen in Chile gibt es hier und hier.