Gerold Schmidt   September 7.  2020

Wenn von der zentralamerikanischen Migration die Rede ist, bezieht sich das in der Regel auf die drei Länder des sogenannten Nord-Dreiecks: Guatemala, Honduras, El Salvador. Als viertes Land der Region mit einer größeren Gruppe von Migrant*innen findet Nicaragua weniger Beachtung. Das hat mehrere Gründe. Zahlenmäßig reicht die Migration der Nicaraguaner*innen Richtung USA im letzten Jahrzehnt nicht an die der drei anderen Länder heran. Lange Zeit fand eine oft saisonale Arbeitsmigration vor allem ins südliche Nachbarland Costa Rica statt. Teilweise waren sogar die naheliegenden Länder des Nord-Dreiecks Migrationsziel. Diese Situation hat dazu beigetragen, dass es in Nicaragua vergleichsweise wenige Organisationen gibt, die die Migrant*innen begleiten. Ebenso gilt dies für die Komitees und Zusammenschlüsse von Familienangehörigen verschwundener Migrant*innen.

Längere Zeit war zudem die politische Lage in Nicaragua unter dem Regime Daniel Ortegas verhältnismäßig stabil. Die Gewaltsituation im Land war nicht vergleichbar mit der in den Ländern des Nord-Dreiecks. Spätestens seit der Unterdrückung der Massenproteste im April 2018 gegen die Regierung lässt sich dies nicht mehr so einfach behaupten. Das Phänomen des Verschwindenlassens wurde zumindest vorübergehend zu einem Problem im Land selbst. In vielen Fällen war nicht klar, ob sich Menschen vor der Polizei und paramilitärischen Gruppen versteckten oder von diesen verschleppt wurden. Die im politischen Kontext ausgelöste Massenflucht orientierte sich ebenfalls wie die früheren Migrant*innenbewegungen in erster Linie Richtung Costa Rica. Vermutlich bis zu 90 000 Nicaraguaner*innen flüchteten in den Monaten nach dem April 2018 über die Grenze ins Nachbarland. Viele haben dort Asyl beantragt. Ob sich mittelfristig mehr Nicaraguaner*innen auf den Transit durch das Nord-Dreieck und Mexiko in die USA aufmachen werden, ist derzeit Spekulation.

Verschwundene Migrant*innen

Das alles heißt jedoch nicht, dass es die nicaraguanische Migration in die USA und weitere Länder außerhalb Zentralamerikas nicht gibt. Die migrierenden Personen sind auf diesem Weg wie alle anderen Migrant*innen dem Risiko des Verschwindenlassens ausgesetzt. Wie in den anderen Ländern, können die Zahlen nur Annäherungen sein. Da es sich ausschließlich um angezeigte Fälle handelt, ist das Ausmaß der Tragödie sicherlich wesentlich größer. Im Zeitraum 2011 bis 2018 verschwanden nach den Daten des Jesuitischen Dienstes an Migrant*innen (SJM) etwa 130 migrierende Personen aus Nicaragua. Nicht bei allen, aber bei deutlich mehr als der Hälfte verlor sich die Spur auf dem Weg in die USA. Die meisten starteten aus dem Großraum Managua und aus Chinandega, der Grenzprovinz zu Honduras. Die überwiegende Mehrheit waren Männer. In der Karawane der zentralamerikanischen Mütter, die Jahr für Jahr in Mexiko nach verschwundenen Angehörigen sucht, sind in der Regel einige Mütter oder andere Familienangehörige aus Nicaragua dabei. Bis 2018 fanden sie sieben verschwundene nicaraguanische Migrant*innen lebend auf. In einigen Fällen erlangten sie die Gewissheit, dass die Verschwundenen auf dem Transit Richtung Norden umgebracht wurden. Die meisten Fälle bleiben ungeklärt.

Die Arbeit des SJM

Wenn es um die Arbeit zum Thema Migration in Nicaragua geht, führt kaum ein Weg am 2009 eingerichteten Jesuitischen Dienst an Migrant*innen (SJM) vorbei. In Chinandega und Managua hat der SJM zwei Büros. Über andere jesuitische und kirchliche Einrichtungen sowie Allianzen ist der Dienst über Zentralamerika und Mexiko bis in die USA, die Karibik und Spanien vernetzt. Der SJM betreibt das Radioprogramm „Mochila Viajero“ (Reiserucksack). Seit einigen Jahren informiert er die Bevölkerung mit Unterstützung der Internationalen UN-Organisation für Migration (IOM) und in Koordination mit örtlichen Partnern sowohl über reguläre Migrationsmöglichkeiten als auch über die Risiken der „irregulären“ Migration. Die Jesuiten warnen zum Teil eindrücklich vor der irregulären Option. Ihre Initiativen sind jedoch darauf ausgerichtet, diejenigen, die sich für diesen Weg entscheiden, weniger verletzbar zu machen. Der SJM erteilt Rechtsberatung und will die Migrant*innenorganisationen und Komitees der Familienangehörigen, einschließlich der Angehörigen Verschwundener, stärken. Diese sind für ihn „Akteure des Wandels“. Damit die Risiken auf den Migrationsrouten vermindert werden, gibt es eine Zusammenarbeit mit dem Netzwerk REDODEM. In diesem sind unter anderem über 13 mexikanische Bundesstaaten verteilte Migrant*innenherbergen, Volksküchen, und Beratungsstellen zusammengeschlossen.

Der Jesuitische Dienst betreibt ebenso Migrationsforschung. Das jüngste Beispiel ist das 2019 veröffentliche Dokument „Migración en el contexto de crisis sociopolítíca y
violación de los Derechos Humanos en Nicaragua“ (Migration im Kontext der soziopolitischen Krise und Menschenrechtsverletzungen in Nicaragua). Es nimmt die Migrationswelle nach dem April 2018 aufgrund der soziopolitischen Krise zum Anlass, die nicaraguanische Migration der vergangenen 40 Jahre mit ihren jeweiligen Rahmenbedingungen zu beleuchten. Dadurch wird einmal mehr deutlich: Die Gründe für die Migration und die Risiken, die die Migrierenden auf sich nehmen, sind selten eindimensional und ständiger Veränderung ausgesetzt.

 

Weitere Hintergrundinformationen und einen ausführlichen Bericht des Colectivo de Derechos Humanos Nicaragua Nunca+ über die aktuelle Situation nicaraguanischer Migranten finden Sie zudem hier. 

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