von Barbara Lochbihler, Mitglied es Ausschusses gegen das Verschwindenlassen 28. Mai 2021
Die drei Staatenüberprüfungen während der 20. Sitzung des UN-Ausschusses gegen das Verschwindenlassen vom 12. April bis 7. May 2021 brachten ein Stück Normalität in die Arbeit des Ausschusses zurück. Allerdings konnten diese Dialoge mit der Schweiz, Mongolei und Kolumbien wie auch alle anderen Beratungen des Ausschusses infolge der Covid-19-Pandemie auch diesmal nur im online-Format stattfinden.
Unabhängig vom Format ist es jedes Mal sehr bewegend, wenn Opfer von Verschwindenlassen dem Ausschuss und der Öffentlichkeit persönlich ihre Erfahrungen schildern. In dieser Sitzung berichtete Reyna Patricia Ambros Zapatero aus Mexiko, wie sie 2018 Augenzeugin wurde, als ein junger Mann in Mexiko verschleppt und verschwunden wurde. Als sie begann, Fragen zu stellen und nach ihm zu suchen, wurde sie selbst Opfer des gewaltsamen Verschwindenlassens. Bewaffnete Männer in Marineuniformen verschleppten sie an einen geheimen Ort und folterten sie. Nach drei Tagen wurde sie an einer Straße ausgesetzt, aber ihr und ihrer Familie wurde mit dem Tod gedroht, falls sie weiter auf Demonstrationen gehen oder Anzeige erstatten würde. Sie sei überzeugt, dass das schnelle Eingreifen des Ausschusses gegenüber den mexikanischen Behörden ihr Leben gerettet habe. Gerechtigkeit habe sie aber bis heute nicht erfahren, keine Entschädigung und niemand wurde zur Verantwortung gezogen. Das Schicksal des jungen Mannes, dessen Verschwinden sie beobachtet hatte, sei bis heute ungeklärt.
Mein Kollege Horacio Ravenna aus Argentinien sagte, ihre Anwesenheit heute sei ein Beweis dafür, dass internationale Einmischung dazu beitragen kann Leben zu retten. Das sei Ermutigung und Ansporn für uns, trotz aller Schwierigkeiten nicht nachzulassen und von den Staaten die wirksame Umsetzung der Konvention gegen das Verschwindenlassen zu fordern.
Dies taten wir in dieser Sitzung unter anderem im Dialog mit der Schweiz, deren Regierung 2016 der Konvention beigetreten war und nun erstmals dem Ausschuss Rede und Antwort stand. Dabei ging es unter anderem um illegale Adoptionen von Kindern aus Sri Lanka in den 80er und 90er Jahren. Die Schweiz wurde aufgefordert sorgfältig zu untersuchen, inwieweit diese Kinder möglicherweise Opfer von gewaltsamem Verschwindenlassen wurden, und dem Ausschuss darüber erneut zu berichten. Besorgnis äußerte der Ausschuss über Berichte, dass in Fällen von Untersuchungshaft Angehörige und Anwält*innen der Inhaftierten erst verzögert Informationen erhalten würden. Auch im Hinblick auf die nicht ausreichend präzise Umsetzung des Straftatbestandes des gewaltsamen Verschwindenlassens im nationalen Strafgesetzbuch wurde entsprechende Nachbesserung empfohlen.
Probleme bei der Definition des Straftatbestandes im nationalen Recht wurden auch im Dialog mit der Mongolei ausführlich diskutiert, wo Verschwindenlassen nur die unrechtmäßige Haft umfasst und deshalb die mongolische Delegation zu entsprechenden Änderungen im Sinne der Konvention aufgefordert wurde. Auch soll die Regierung für umfassende Schulungen von Sicherheits- und Justizpersonal sorgen, um die Bestimmungen der Konvention bekannt zu machen und die Einhaltung in der Praxis zu gewährleisten. Die Kommunikationsschwierigkeiten für einen online-Staatendialog wurden in diesem Fall besonders offenkundig, denn der Delegation in Ulan Bator fehlte es an ausreichend fachkundigen Dolmetscher*innen, was zu zeitaufwendigen Rücksprachen führte und mancher erst nachträglich beantworteten Frage.
Für den Dialog mit Kolumbien bot das online-Format hingegen den Vorteil, dass 53 Vertreter*innen von Opferverbänden und Nichtregierungsorganisation vorab den Ausschussmitgliedern über die Situation im Land berichten konnten. Organisiert wurde dies vom Büro des UN Hochkommissariats in Bogota. Das große Interesse der NGOs aus Kolumbien machte uns einmal mehr deutlich, wie angespannt die dortige Situation ist und wie unzureichend die Kapazitäten und der politische Wille der Regierung für eine konsequente Suche nach Verschwundenen sind. Angesichts der großen Defizite bei der Sicherung und Untersuchung von Massengräbern ist die Sorge groß, dass sich viele Spuren zu den verschwundenen Menschen nicht mehr rekonstruieren lassen werden.
Der Austausch mit der Regierungsdelegation fand nach Artikel 29(4) der Konvention auf der Basis sogenannter zusätzlicher Informationen statt, welche der Ausschuss angefordert und vorab von Kolumbien erhalten hatte. Auch wenn verschiedene Entwicklungen im Land gewürdigt wurden, wie etwa neue Mechanismen zur Suche nach verschwundenen Personen, kritisierte der Ausschuss die fehlenden konkreten Fortschritte bei der Suche nach 84.330 Verschwundenen, darunter 9964 Kinder, die beim Generalstaatsanwalt Ende 2020 registriert waren. Die Regierung müsse außerdem sicherstellen, dass Verantwortliche für gewaltsames Verschwindenlassen zur Rechenschaft gezogen und bestraft und Opfer vollumfänglich entschädigt würden.
Nur wenige Tage nach dem Staatendialog mit Kolumbien und noch bevor wir die daraus resultierenden Empfehlungen beschlossen hatten, begannen Polizei- und Sicherheitskräfte mit exzessiver Gewalt gegen die sozialen Proteste im Land vorzugehen, in deren Folge es Tote, Verletzte und gewaltsam Verschwundene gab. In einigen dieser Fälle hat sich der Ausschuss mit seinen Dringlichkeitsaktionen eingeschaltet und erneut daran appelliert, das keinerlei Umstände das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen rechtfertigen.
Die Gesprächsrunde mit den NGOs aus Kolumbien machte einmal mehr deutlich, wie wichtig für den Ausschuss – so wie für alle UN Menschenrechtsgremien – der regelmäßige Austausch mit der Zivilgesellschaft ist. Diese Zusammenarbeit ist aber nicht selten mit Gefahren für die Aktivist*innen und Angehörige verbunden, wie der UN Generalsekretär jedes Jahr in einem ausführlichen Bericht dokumentiert. Der Ausschuss hat deshalb in seiner Sitzung Leitlinien zur Verhinderung von und zum Umgang mit Einschüchterungen und Repressionen gegen diejenigen, die mit dem Ausschuss kooperieren wollen, verabschiedet.
Die nächste Sitzung des Ausschusses gegen das Verschwindenlassen ist für den 13. bis 24. September 2021 geplant. In welchem Format dies stattfinden kann, wird vom weiteren Verlauf der Pandemie abhängen und dementsprechend erst kurzfristig entschieden. Auf unserer Tagesordnung stehen u.a. Spanien, Frankreich, Brasilien und Panama. Ein Thema wird auch das gewaltsame Verschwinden im Kontext von Migration und Flucht sein, worüber der Ausschuss am 22. April gemeinsam mit der Arbeitsgruppe gegen das Verschwindenlassen (WGEID) und dem Ausschuss zum Schutz der Rechte von Wanderarbeitnehmern (CMW) nichtöffentlich diskutiert hat. Auf Grundlage der Erkenntnisse der Studie „Disappeared Migrants and Refugees“ wollen wir die Verpflichtungen aus der Konvention stärker herausarbeiten und die Position des Ausschusses deutlich machen.