Guerrero ist einer der gefährlichsten Bundesstaaten Mexikos. Das Verschwindenlassen von Personen hat hier eine lange Geschichte. Während des Schmutzigen Krieges der 1970er Jahre verschleppten Soldaten Hunderte von Oppositionellen. Mindestens 375 Menschen sind allein rund um Iguala in den letzten Jahren verschwunden. Nur wenige werden gefunden. Viele Angehörige suchen seit Jahren selbst nach ihren vermissten Verwandten.
Von Wolf-Dieter Vogel und Kristin Gebhardt, Iguala
(Berlin, 27. Januar 2016, npl).- Ast für Ast kämpft sich Mario Vergara durch das dornige Gestrüpp. Hier in den Bergen rund um die Stadt Iguala müssen die Kriminellen seinen Bruder Tomás verscharrt haben. Vor drei Jahren wurde er entführt, seither fehlt jede Spur. Nun hat sich Vergara selbst auf die Suche gemacht. Gemeinsam mit anderen, die ihre Angehörigen vermissen, durchkämmt der 41-jährige Mexikaner das Gelände. Doch zwischen all dem Unkraut und den vertrockneten Büschen fällt es schwer, die Erdlöcher zu finden, in denen die Mörder ihre Opfer verschwinden ließen.
Angehörige machen sich selbst auf die Suche
„Wir suchen nach Anzeichen dafür, dass die Erde bewegt wurde. Man erkennt das zum Beispiel, wenn die Steine etwas tiefer liegen“, erklärt er. Dann entdeckt Vergara eine leichte Absenkung, auf der die Erde locker aufliegt. Hier müsse etwas sein, sagt er. Dann markieren sie die Stelle. Gleich werden Forensiker*innen hier graben. Oft haben die Angehörigen Recht und die Expert*innen finden genau da die sterblichen Überreste eines Menschen.
Seit Oktober 2014 suchen Vergara und seine Mitstreiter*innen nach ihren vermissten Söhnen, Brüdern oder Partnern. Fast täglich machen sie sich auf den Weg. Anfangs zogen sie mit 40, 50, ja sogar 70 Familien los. Völlig ohne Schutz. „Wir haben zwar immer Sicherheitsmaßnahmen gefordert, aber man hat sie uns nicht zugestanden“, kritisiert er. Mittlerweile hat sich das geändert. Bewaffnete Bundespolizisten begleiten die Angehörigen. Sie sollen den Suchtrupp vor Banden schützen, die in den Bergen Drogen transportieren und Menschen entführen. Auch Forensiker*innen und Vertreter der Staatsanwaltschaft sind jetzt dabei.
Niemand traute sich, darüber zu sprechen
Schon mehrmals waren sie auf dieser Brache, am Ende eines Feldweges. Allein an diesem Ort hat die Gruppe zwanzig Leichen entdeckt. Meist sind nur Skelette geblieben, denn viele der Opfer wurden schon vor Jahren ermordet. Immer wieder haben die Killer hier Menschen hingerichtet. Personen, die anonym bleiben wollen, haben sie an diesen Ort geführt. „Anders findet man diese Plätze nicht,“ erklärt Vergara.
Nur zwei Kilometer entfernt befindet sich die nächste Siedlung. Immer wieder hörten Bewohner*innen nachts die verzweifelten Schreie. Alle wussten Bescheid. Doch niemand traute sich, darüber zu sprechen. Auch nicht darüber, dass regelmäßig Fahrzeuge der lokalen Polizei und der Mafia-Organisation Guerreros Unidos auf eine Brachfläche in den Bergen fuhren. Erst recht erwähnte keiner, dass auch der damalige Bürgermeister José Luis Abarca dabei war. Heute sitzt Abarca im Gefängnis, weil er den Angriff auf die Studenten angeordnet hat. Auch seine Frau ist inhaftiert. Sie gilt als Anführerin der Guerreros Unidos.
Polizei und Soldaten arbeiten mit Entführer*innen zusammen
Vom Anwesen der Kirchengemeinde San Gerardo im Zentrum von Iguala ist der Suchtrupp am Morgen losgezogen. Im Laufe des Tages treffen weitere Menschen ein. Hier bekommen Angehörige juristische und psychologische Beratung. Auch DNA-Proben können sie abgeben. So soll festgestellt werden, wem die gefundenen Knochen zuzuordnen sind. Auf dem Gelände seien die Menschen sicher, erklärt Pfarrer Oscar Prudenciano. Erst im Laufe der Zeit sei ihm klar geworden, wie groß die Angst der Leute ist: „Vorher trauten sie sich nicht, sich zu organisieren und ihre Verwandten zu suchen, weil lokale und bundesstaatliche Polizist*innen sowie Soldaten leider mit der organisierten Kriminalität zusammenarbeiten.“ Gemeinsam seien sie für die Entführungen verantwortlich.
Guerrero ist einer der gefährlichsten Bundesstaaten Mexikos, das Verschwindenlassen von Personen hat hier eine lange Geschichte. Während des Schmutzigen Krieges der 1970er Jahre verschleppten Soldaten Hunderte von Oppositionellen. Heute trifft es alle: Handwerker, Taxifahrer, Polizisten, Linke. Die Mehrzahl sind Opfer sind Männer. Die einen sind den örtlichen Machthaber*innen lästig, für die anderen fordern die Entführer Lösegeld. Mindestens 375 Menschen sind allein rund um Iguala in den letzten Jahren verschwunden, insgesamt gelten in Mexiko nach offiziellen Angaben seit 2006 etwa 22.000 Personen als vermisst. Nur wenige werden gefunden.
Noch immer kein Gesetz gegen das Verschwindenlassen
Maria del Carmen Naena wundert das nicht. Jeden Dienstag trifft sie sich auf dem Kirchengelände mit anderen Angehörigen. Anfang 2014 kam ihr Mann einfach nicht mehr nach Hause. Obwohl sie Anzeige erstattete und von Behörde zu Behörde zog, ist nichts passiert. Die Strafverfolger haben sich nicht um ihren Fall gekümmert. “Die gehören doch selbst dazu. Die Polizisten sind in die Verbrechen verstrickt. Nicht alle, es gibt auch ehrliche Beamte, aber die anderen lassen sie nicht richtig arbeiten”, ist sie überzeugt.
Mit der Straflosigkeit soll jetzt Schluss sein. Seit einigen Monaten arbeitet die Regierung an einem Gesetz gegen das Verschwindenlassen. Doch die Angehörigen sind skeptisch. Noch immer sei kein Entwurf vorgelegt worden, zudem werde die Zivilgesellschaft nicht adäquat einbezogen, kritisieren sie. Dabei hatten 60 Angehörigen-Gruppen und Menschenrechtsorganisationen gemeinsam dem Senat einen Zehn-Punkte-Plan überreicht, in dem sie wichtige Aspekte benennen: Erstellung einer einheitlichen Liste der Verschwundenen, Schutz und Entschädigung für die Angehörigen, Aufhebung der Immunität für straffällige Politiker*innen. Doch bisher sei wenig geschehen.
Regierung kürzt Geld für Spezialeinheit
Stattdessen sei der Etat für die Spezialeinheit zur Suche von verschwundenen Personen für 2016 um 30 Prozent gekürzt worden. Angehörigen-Sprecherin Lucia Diaz traut den Verantwortlichen nicht: „Sie interessieren sich nur für das Bild, das sie kurzfristig nach Außen vermitteln.“ Die Regierung wolle Zeit gewinnen, meint sie. Und: „Sie behandeln das Verschwinden von Menschen wie ein Modethema, nicht wie das, was es ist: ein humanitärer Notfall.“
Zurück in den Bergen. Mario Vergara und seine Mitstreiter*innen suchen weiter nach auffälligen Stellen im dornigen Dickicht. In 60 geheimen Gräbern haben sie bislang die Reste von 106 Leichen gefunden. Jetzt gerade haben sie unter einem Busch ein Grab entdeckt, in dem zwei Leichen verscharrt sind. Vorsichtig befreien die Forensiker*innen die Knochen vom Dreck. Vergara glaubt nicht, dass die sterblichen Reste seines Bruders Tomás dabei sind. Und wenn doch? “Das sind doch nur Knochen,” sagt er. Er erinnere sich an den lebenden Bruder, an dessen Lächeln, dessen Haut. Dennoch muss er ihn finden. “Denn dann werde ich ihn beerdigen, damit Tomás endlich in Frieden ruhen kann.”
Den dazugehörigen Radiobeitrag finden Sie hier.
Stand: 13.03.2016